Im Jahre 2006 präsentierte Regisseur Chris Kraus bei den Hofer Filmtagen seinen zweiten Kinofilm „Vier Minuten", der darauf folgend noch mehr als 50 Preise im In- und Ausland gewinnen und viel Lob für Inszenierung und die beiden großartigen Hauptdarstellerinnen einheimsen sollte. Auch sein aufwändiges Historiendrama „Poll" feierte nun in Hof seine Deutschlandpremiere und stellte erneut die hervorragende Schauspielerführung des Regisseurs unter Beweis. Die in Estland kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs angesiedelte Geschichte der mit dem Leichnam ihrer Mutter auf das Gut Poll kommenden Oda von Siering, die einen estnischen Anarchisten vor ihrer Familie versteckt und von diesem in die Kunst der Schriftstellerei eingeführt wird, überzeugt mit ihrer ausgewogenen Inszenierung sowie ihren epischen Bilden und wurde im „Wohnzimmer des deutschen Kinos" als Highlight des Festivalprogramms gefeiert.
Juni, 1914: Die aufgeweckte 14-jährige Oda von Siering (Paula Beer) kehrt zu ihrem Vater und dessen neuer Familie an die Ostseeküste Estlands zurück, eine Provinz des Zarenreiches, in der die herrschenden Deutsch-Balten, russische Militärstaffeln und die unterjochten Esten einander misstrauisch beäugen. Das temperamentvolle und etwas vorlaute Mädchen begleitet die sterblichen Überreste seiner geliebten Mutter, mit der sie vorher in Berlin wohnte, auf das Gut ihrer adligen, deutschbaltischen Familie, auf dem ihr cholerischer Vater Ebbo von Siering (Edgar Selge) mit seiner weltentrückten zweiten Frau Milla (Jeanette Hain) und ihrem Sohn Paul (Enno Trebs) lebt. Der verschrobene Hirnforscher Ebbo widmet sich in einem zum Labor umgebauten Sägewerk fanatisch seinen von der wissenschaftlichen Fachwelt missachteten Studien über das menschliche Wesen und bemerkt dabei überhaupt nicht, wie verloren sich seine Tochter inmitten der neuen Gesellschaft fühlt. Als Oda zufällig einen von russischen Truppen schwer verwundeten estnischen Anarchisten entdeckt, entscheidet sie sich aus einem Impuls heraus, ihm zu helfen. Obwohl die Unterbringung des namenlosen Verletzten, der sich von ihr „Schnaps" (Tambet Tuisk) nennen lässt, schwerwiegende Konsequenzen haben könnte, verschafft sie ihm über dem Labor ihres Vaters einen Unterschlupf. Das junge Mädchen entwickelt romantische Gefühle für den Flüchtling, der eigentlich so schnell wie möglich weiterziehen will, während die verdeckten Konflikte auf dem von russischen Truppen als Aufenthaltsort genutzten Gut Poll immer mehr hervorbrechen und das fragile estnische Gesellschaftssystem seinem Zusammenbruch entgegensteuert...
Nach dem Erfolg von „Vier Minuten" setzt Regisseur Chris Kraus („Scherbentanz") sich mit einem Stück seiner eigenen Familienhistorie auseinander, indem er seinen poetischen Historienfilm „Poll" lose an eine zentrale Lebensepisode seiner Großtante anlehnt, die in den 50er Jahren große Bekanntheit als Lyrikerin erlangte. Auf die Cousine seines Großvaters und deren ereignisreiches Leben stieß der Regisseur erst in der Zeit seines Literaturstudiums in Mannheim, als ihm ein Lyrikband von Oda Schaefer (geborene Kraus) in die Hände fiel, da die Verwandte aufgrund ihrer kommunismusfreundlichen Gesinnung von der Familie stets totgeschwiegen worden war. Die aufwändige deutsch-österreichisch-estnische Co-Produktion, an dessen Drehbuch der Regisseur schon vor 15 Jahren zu arbeiten begann, zeichnet sich durch eine faszinierende Kulisse und eine bildmächtige Inszenierung aus, welche die Zeit kurz vor dem Untergang einer kleinen Welt am Rande der europäischen Zivilisation auf epische Weise widerspiegelt.
Das mit großem Aufwand heraufbeschworene historische Setting in Zusammenhang mit den aufkeimenden familiären Konflikten verkommt nie zu einem rührseligen Kostümfilm ohne Seele. Vielmehr spürt der Zuschauer die Leidenschaft, mit der „Poll" inszeniert wurde. Die außergewöhnliche Kulisse des extra errichteten, auf Stelzen am baltischen Ostseestrand stehenden und einen morbiden Charme ausstrahlenden Anwesens verkommt nie zum Selbstzweck, und durch die distanzierte Erzählweise wird der Film trotz der melodramatischen Ereignisse nicht zu sentimental.
Neben der wunderbaren Bildgestaltung und der die Geschehnisse hervorragend umspielenden Musik von Annette Focks, begeistern auch die Darstellerleistungen. Jeanette Hain („Die Gräfin") überzeugt als gestrenge Aristokratin, die wenig Verständnis für die Experimente ihres bei der Berliner Universität in Ungnade gefallenen Ehemannes aufbringt. Tambet Tuisk macht mittels seines Charmes verständlich, wieso Oda den unbekannten Verwundeten schon bald ins Herz schließt. Und Edgar Selge („Das Experiment") zeigt als Odas Vater eine seiner besten Leistungen überhaupt. Sein Ebbo von Siering ist vom Tode, von seinen morbiden Experimenten und seinen eigenwilligen Theorien besessen und zeigt nur ein sekundäres Interesse an seiner Tochter. Der Vater, der sich immer einen Sohn wünschte, verbringt nur Zeit mit Oda, als diese gerissen ihre Begeisterung für die Medizin vorgibt, um etwas über die Wundversorgung zu lernen und damit dem von ihr verborgenen Freund helfen zu können. Der stolze Mann, der sich mit Vorliebe mit dem Sezieren menschlicher Gehirne beschäftigt, will nicht wahrhaben, dass seine Forschungen als unethisch und unzeitgemäß angesehen werden und erkennt den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Umbruch nicht.
Insbesondere begeistert aber Hauptdarstellerin Paula Beer, die in ihrem Filmdebüt eine ungeheure Natürlichkeit und emotionale Tiefe an den Tag legt. Mehr als 2.500 junge Mädchen wurden gecastet, bevor sich Kraus für die bisher nur im Jugendensemble des Berliner Friedrichstadtpalastes aufgetretene Darstellerin entschied, die eine seiner Assistentinnen auf einem Schulhof angesprochen hatte. Beer lässt das kindliche Sehnen nach Romantik und Abenteuer, das „Schnaps" als geflohener Sträfling und verbotener Autor erneut entfacht, genauso erfahrbar werden, wie die aufkeimenden leidenschaftlichen Gefühle der jungen Frau für den Unbekannten. Ihre Begeisterung für die Lyrik und das Geschichtenerzählen arbeitet sie ebenso gekonnt heraus, wie ihre etwas verschlagen-hinterhältige Haltung gegenüber dem ihr Avancen machenden Paul und die Einsamkeit, die Oda inmitten der ihr stets fremd erscheinenden estnischen Familie empfindet. Kraus beweist damit nach Hannah Herzsprung, die in „Vier Minuten" als rebellische Gefängnisinsassin und Klavierschülerin brilliert, erneut sein Gespür für das Auffinden junger, unverbrauchter Schauspieltalente, die in der Lage sind, die Energie, Melancholie und insbesondere Entschlossenheit ihrer starken Frauencharaktere auf die Leinwand zu transportieren.
Während am oftmals blutrot erstrahlenden Horizont der Ostsee der Erste Weltkrieg heraufzieht, entfaltet sich die ergreifende Geschichte eines aus ihrer eigenen ungeliebten Umwelt zu entfliehen suchenden Mädchens, dessen Vater seinen konservierten Exponaten näher steht als seiner eigenen Tochter. Doch trotz aller Stärken bleibt bei dem episch angelegten Film das Gefühl, dass eine stärkere Fokussierung auf die zentrale Geschichte um Oda und ihren Patienten „Poll" noch emotional packender hätte werden lassen können. Kraus versucht, viele Einzelheiten und Nebenstränge um Bevölkerungsgruppen, familiäre Zwistigkeiten und Forscherambitionen in seinem Historiendrama unterzubringen, und verliert damit ein wenig an der narrativen und emotionalen Dichte, die „Vier Minuten" noch auszeichnete.
Fazit: „Poll" erweist sich als stark bebildertes Epos einer sich kurz vor dem Umbruch befindenden Gesellschaft, das mit hervorragenden Schauspielleistungen und interessanten Themenkonstruktionen aufwartet, aber etwas die narrative Dichte von Kraus gefeiertem „Vier Minuten" vermissen lässt. Doch der epische Bilderreigen fügt sich mit der poetischen Erzählweise und den begeisternden Darstellerleistungen zu einer überzeugenden Gesamtkomposition zusammen und lässt das historische Drama letztlich als glänzenden Stern im Programm der Hofer Filmtage erstrahlen, der seinen morbid-poetischen Glanz sicherlich auch in den übrigen Lichtspielhäusern der Republik entfalten wird.