Beim alljährlichen Tippspiel der amerikanischen Filmbranche, bei den Oscars, hätte es dieses Jahr niemand gewagt, in der Kategorie des besten fremdsprachigen Films gegen Asghar Farhadis „Nader und Simin - Eine Trennung" zu setzen. Hatte das iranische Familien- und Gesellschaftsdrama im Kinojahr 2011 doch bereits eine so beispiellose Siegesserie auf den namhaftesten Festivals und Preisverleihungen der westlichen Hemisphäre hingelegt, dass die Krönung durch einen Oscar nur noch als reine Formalität galt. Dabei wäre die Konkurrenz, allesamt mehr oder weniger düstere, sozialkritische wie persönliche Dramen aus Ländern wie Polen („In Darkness"), Belgien („Bullhead"), Israel („Footnote") und Kanada („Monsieur Lazhar") nicht minder preiswürdig gewesen. Vor allem Philippe Falardeaus humorvolles und melancholisches Lehrer-Schüler-Drama „Monsieur Lazhar" hätte sich als eine nicht minder komplexe, ungleich lebensbejahendere Alternative zum Siegerfilm angeboten. Die Adaption des Einakters „Bashir Lazhar" von Évelyne de la Chenelière besticht durch eine sensible, zurückhaltende Inszenierung, einem charismatischen Hauptdarsteller und einem sehr glaubwürdig spielenden Ensemble putziger Kinderdarsteller.
Ein gewöhnlicher Schultag in einer Grundschule in Montreal endet noch vor der ersten Unterrichtsstunde, als der kleine Simon (Émilien Néron) und die junge Alice (Sophie Nélisse) einen grausigen Fund machen. Martine (Héléna Laliberté), ihre beliebte Klassenlehrerin, hat sich in ihrem Unterrichtsraum an einem Strick erhängt. Während sich die gestresste Schulleiterin um Schadensbegrenzung bemüht und für die psychologische Betreuung der Schüler sorgt, stellt sich ihr mit Bachir Lazhar (Mohamed Fellag) ein Asylbewerber aus Algerien vor, der sie um die frei gewordene Stelle bittet. Der Immigrant, der als politischer Flüchtling nach Kanada gekommen ist, will die schwer traumatisierte Klasse Martines übernehmen und bekommt in Ermangelung einer raschen Alternative die Stelle. Erst unbeholfen und zögerlich, dann immer selbstbewusster und einfühlsamer nähert sich der selbst von Ereignissen aus seiner Vergangenheit geplagte Vertretungslehrer seinen Schützlingen und ihren Einzelschicksalen...
Auch im vierten Spielfilm des oft und gern gesehenen Festivalgastes Philippe Falardeau scheint seine Herkunft aus dem Dokumentarfach durch. Statt sich an die konventionelle Dramaturgie ähnlich gestrickter Lehrer-Schüler-Dramen zu halten, in denen alle Beteiligten von der Interaktion im Klassenzimmer nachhaltige Entwicklungen davontragen (etwa „Auf Wiedersehen, Mr. Chips", „Der Club der toten Dichter" oder „Mr. Holland's Opus"), setzt der sehr behutsam und feinfühlig erzählende Filmemacher hier auf improvisiert wirkende Momente aus dem Schulalltag. Das hat zwar den unvorteilhaften Nebeneffekt, dass sein Film bei gerade mal 94 Minuten Spielzeit mitunter etwas überlang ist, aber die Strategie verleiht dem Geschehen auch eine erfrischende Unberechenbarkeit. Und wie schon in seiner inspirierten Lausbubenkomödie „Ich schwör's, ich war's nicht!" (2008) gelingt es Falardeau auch diesmal, seinen kindlichen Darstellern glaubhafte, subtile Emotionen zu entlocken.
Vor allem Sophie Nèlisse empfiehlt sich in dem beeindruckenden Ensemble von 11- bis 13-Jährigen mit der Ausdruckskraft einer jungen Jodie Foster („Das Mädchen am Ende der Straße", 1976) in der schwierigen Rolle der Alice, die unter dem Verlust ihrer idealisierten Lehrerin und der Abwesenheit ihrer Pilotenmutter leidet. An ihr souveränes, naturalistisches Spiel kommt der charmant und liebenswert tapsig auftretende Mohamed Said Fellag, ein in Kanada bekannter Komiker und Schriftsteller, zwar nicht ganz heran, doch das ist auch der etwas halbgaren Ausgestaltung seiner Rolle zuzuschreiben. Bachir Lazhar wird meist gedankenverloren und von hinten fotografiert und wirkt mit seinem unbeholfenen Lächeln und Verhalten etwas zu reserviert und kauzig. Das macht die Figur zwar auch mysteriöser und interessanter, so ganz blickt man bei ihr aber auch nach dem Ende nicht durch. Indes gelingt es dem Film, nicht nur lebhafte, atmosphärische Cinemascope-Bilder auf die Leinwand zu zaubern, sondern auch so schwierige wie vieldiskutierte zeitgenössische Themen wie Trauma, Immigration und Multikulturalität aus verschiedenen Blickwinkeln zu durchleuchten und zu problematisieren, ohne dabei seinen positiven Grundton zu verlieren.
Fazit: Für „Monsieur Lazhar" gab es bislang unter anderem den Preis für die beste kanadische Produktion auf dem Filmfestival von Toronto und die Trophäe für den besten Film bei den kanadischen Oscars, den Genies – und das völlig zu Recht. In warmen, gefühlsbetonten Bildern erzählt Philippe Falardeau von der mal witzigen, mal rührenden, oft politisch und kulturell reflektierten Bewältigung traumatischer Ereignisse durch den Lehrer und die Schüler einer kanadischen Grundschulklasse.