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    Carlos - Der Schakal
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Carlos - Der Schakal
    Von Carsten Baumgardt

    Wenn es um den Terrorismus in den Siebzigern und Achtzigern geht, dann scheint das mediale Gedächtnis der Deutschen ausschließlich die Taten der Rote Armee Fraktion (RAF) abgespeichert zu haben. Kein Wunder, spielt die deutsche Bewegung doch eine der Hauptrollen im Kampf der Linksextremen gegen den Staat als Institution. Beim Blick über den Tellerrand zeigt sich aber schnell ein international operierendes Netzwerk von Terrorgruppen – von der Pro-Palästina-Bewegung bis zur Japanischen Roten Armee. Und unabhängig davon, welche der komplexen Verästelungen man ins Auge fasst, immer wieder begegnet einem ein Protagonist: der Marxist Ilich Ramírez Sánchez, der als Carlos über fast 20 Jahre den Ruf genoss, der gefährlichste Terrorist der Welt zu sein. Regisseur Olivier Assayas erzählt in seinem grandiosen epischen Terrorismus-Drama „Carlos – Der Schakal" die Lebensgeschichte des Venezolaners vor dem Hintergrund des globusumspannenden „War Of Terror".

    Ilich Ramírez Sánchez alias Carlos (Édgar Ramírez) erscheint erstmals Ende 1973 auf der terroristischen Bildfläche, als er in London versucht, den einflussreichen jüdischen Geschäftsmann Joseph Sieff zu liquidieren. Der Anschlag misslingt jedoch, das Opfer überlebt schwer verletzt. In Paris schließt sich Ramírez Sánchez dann der Volksfront zur Befreiung Palästinas an und bekommt die Verantwortung für den europäischen Arm der Organisation übertragen. Als er von französischen Agenten gestellt wird, schießt er sich den Weg frei und ist fortan dazu verdammt, im Untergrund zu leben. Carlos, wie er sich mittlerweile schlicht nennt, ist 1975 an einem Panzerfaustanschlag auf zwei El-Al-Maschinen auf dem Pariser Flughafen Orly beteiligt und führt im gleichen Jahr die spektakuläre Geiselnahme bei der OPEC-Konferenz in Wien an...

    Die Fassung von „Carlos – Der Schakal", die bei den Filmfestspielen von Cannes 2010 außer Konkurrenz im Wettbewerb gezeigt wurde, ist der TV-Dreiteiler (98, 106 und 115 Minuten) des französischen Fernsehens. Diese Version wird aber auch in einigen Kinos zu sehen sein. Trotz der epischen Laufzeit von fünfeinhalb Stunden legt Regisseur Assayas vor allem in den ersten beiden Dritteln ein unglaublich straffes, immer vorwärts treibendes Tempo vor, wobei das Charakterbild des Protagonisten von Minute zu Minute verdichtet wird, bis am Ende ein millimetergenaues Porträt eines Phantoms entsteht. In die Breite der Leinwand voll ausnutzenden Scopekompositionen folgt Assayas Carlos und präsentiert eine zumeist fiktive Innenansicht eines realen Terroristen. So findet das ausschweifende Leben des Ilich Ramírez Sánchez sein filmisches Äquivalent auf der Leinwand. Nur einige Kernpunkte wie die öffentlichen Auftritte Carlos' bei Geiselnahmen sind verbrieft, alles andere ist „recherchierte Spekulation". Dennoch stellt sich der Eindruck von unbedingter Authentizität ein, weil der Filmemacher die Lücken zwischen den tatsächlichen Ereignissen mit so viel Chuzpe füllt, dass der Zuschauer förmlich in den Film hineingesogen wird.

    Jeder der drei Teile, die so intensiv erzählt und dicht verwoben sind, dass sie fast zu einem Rausch verschmelzen, hat dennoch einen eigenen thematischen Schwerpunkt. Im ersten Abschnitt konzentriert sich Assayas auf Carlos‘ Aufstieg zum Top-Terroristen bis hin zum Gipfelpunkt der OPEC-Geiselnahme in Wien. Die sich daraus entwickelnde Entführung der Öl-Minister Saudi-Arabiens und des Irans sowie die anschließende Flugzeug-Odyssee nehmen einen Großteil des zweiten Teils ein und sind ein einziger atemberaubend inszenierter Höhepunkt. Im Abschlussdrittel dreht sich alles um die Zeit in Osteuropa. Hier mutiert „Carlos – Der Schakal" vor allem durch die Begleiterscheinungen und Nebengeräusche der einzigartigen Biographie fast zu einer Art Realsatire – die präsentierten Geschehnisse sind mit dem Adjektiv ungeheuerlich unzureichend beschrieben und doch verliert der Film nie seine innere Glaubwürdigkeit.

    Assayas seziert die internationalen Verbindungen zwischen Politik und Terrorismus und legt dabei jede diplomatische Zurückhaltung ab. Er wird vielmehr konkret und zeigt wie der damalige KGB-Chef und das spätere Staatsoberhaupt Juri Andropow die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat anordnet oder wie hohe staatliche Stellen Syriens bei Carlos Bombenanschläge in Frankreich bestellen. Assayas taucht im Laufe des Films in die grundverschiedenen Milieus ein, in denen sich Carlos bewegt hat. Der Regisseur folgt der Wandlung seines Protagonisten vom überzeugten Marxisten zum Terrorismus-Unternehmer, Waffenhändler und Söldner, der später seinen Fokus nach Osten verlegt und dort teils mit Regierungen zusammenarbeitet, aber manchmal auch nur geduldet wird. Erst im dritten Teil nimmt Assayas etwas Tempo heraus, was aber der Dynamik von Carlos‘ rastlosem Leben entspricht, das in dieser Phase ins Straucheln gerät und ins große Nichts auszutrudeln droht. „Carlos – Der Schakal" zeichnet einen Weg mit Stationen in 16 Ländern über eine Zeitspanne von 21 Jahren nach. Das sind die Dimensionen, die Assayas so bravourös wie filigran verdichtet. Er beschreibt den Terrorismus sozusagen vom anderen Ende des Gewehrlaufs her und gewährt seinem Publikum Einblicke in eine fremde Welt.

    Neben der brillanten Inszenierung Assayas‘ profitiert „Carlos – Der Schakal" von den herausragenden Schauspielerleistungen. Der Venezolaner Édgar Ramírez („Das Bourne Ultimatum", „Che") gibt in einer begeisternden, charismatischen Vorstellung einen vielschichtigen und ambivalenten Carlos. Der Terrorist ist ein Intellektueller, der neben Spanisch fließend Englisch, Französisch, Deutsch, Russisch und Arabisch spricht. Er ist arrogant, brutal, bis ins Mark von sich selbst überzeugt, ohne den Blick für die Realitäten zu verlieren. Der einstige Überzeugungstäter passt sich den Gegebenheiten des Kapitalismus an, was ihn zur Nummer eins im Terror-Business aufsteigen lässt. Im Laufe der Jahre werden die Deutschen Johannes Weinrich (Alexander Scheer, „Das wilde Leben") und Magdalena Kopp (Nora Von Waldstätten, „Falscher Bekenner") zu seinen Weggefährten. Und es sind diese beiden Schauspieler, die aus dem ausgezeichneten Nebendarstellerensemble besonders herausstechen. Aus deutscher Sicht geben aber auch Christoph Bach (als Hans-Joachim „Angie" Klein) und Julia Hummer (als Gabriele Kröcher Tiedemann) als Carlos‘ Gefolgsleute überzeugende Visitenkarten ab. Obwohl praktisch keine positiven Charaktere in Erscheinung treten, ist es einfach faszinierend, dem Geschehen zu folgen, weil Assayas den Mikrokosmos des Terrorismus der damaligen Zeit so detailbesessen durchleuchtet.

    Fazit: „Carlos – Der Schakal" ist all das, was Steven Soderberghs Revoluzzer-Biopic „Che" nicht ist. Olivier Assayas‘ episches Terrorismus-Drama begründet und entzaubert den „Mythos Carlos" gleichermaßen. Diese Eintrittskarte in die Welt von Ilich Ramírez Sánchez sollte sich niemand entgehen lassen, der politisch interessiert ist, der mehr wissen will als die RAF-Geschichten oder einfach Freude an großem Kino hat. Denn „Carlos – Der Schakal" pulverisiert die Dimensionen seines (nur formalen) TV-Formats und weist nicht die inhaltlichen Lücken auf, die bei Uli Edels artverwandtem „Der Baader Meinhof Komplex" mit seiner komprimierten Kinolaufzeit von zweieinhalb Stunden zu beklagen sind. Mit „Carlos" wird das große Ganze des internationalen Terrorismus bis in die letzten Tage des Kalten Krieges beleuchtet. Kurz: ein großartiges Werk.

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