Jede Entscheidung, die ein Filmemacher bezüglich einer Einstellung trifft, ist mehr als nur eine ästhetische oder handwerkliche Festlegung. Sie spiegelt immer auch die Haltung des Regisseurs zu seinem Sujet und zu der Welt, in die er den Zuschauer führt. Früher einmal haben solche cineastischen Entscheidungen über Einstellungsgrößen oder Kamerafahrten, den Zeitpunkt eines Schnitts oder den Einsatz eines Zooms sogar ganze Debatten ausgelöst, in denen so prominente Kritiker wie Jacques Rivette oder Serge Daney sehr deutlich Stellung bezogen haben für ein Kino, das seine Mittel reflektiert. Mittlerweile scheint die Frage nach der Moral eines tracking shots oder einer Nahaufnahme im Gespräch über Filme beinahe obsolet geworden zu sein. Dabei drängt sie sich gerade angesichts der Flut von Dokumentarfilmen auf, die Jahr für Jahr in die Kinos kommen. Schließlich ist in diesem Genre die Grenze zwischen der Abbildung von Wirklichkeit und ihrer (Neu-)Konstruktion besonders schmal. Wie leicht können Dokumentarfilmer zum Komplizen derer werden, die sie eigentlich nur porträtieren wollten. „Fliegen und Engel", Kerstin Stutterheims und Niels Bolbrinkers Dokumentation über den bildenden Künstler Ilya Kabakov, ist dafür ein geradezu klassisches Beispiel. Die beiden Filmemacher haben angesichts ihrer Bewunderung für die Werke des russischen Malers, Zeichners, Illustrators und Installationskünstlers jegliches Bemühen um Objektivität und Distanz aufgegeben. Dieser Eindruck drängt sich zumindest auf, denn dieses Porträt lässt sich kaum von einem Werbefilm unterscheiden.
Seit sich Ilya Kabakov 1988 endgültig in den Vereinigten Staaten niedergelassen hat, ist er zu einem der wichtigsten und am häufigsten ausgestellten bildenden Künstler der Gegenwart aufgestiegen. Zusammen mit seiner Ehefrau Emilia, die er schon in seiner Jugend kennengelernt hatte, aber erst in Amerika wieder traf, hat er weltweit etwa 500 Ausstellungen und Installationen realisiert, die meist um seine Erinnerungen an das Leben in der Sowjetunion kreisen. Fliegen und Engeln kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Die einen, die auf immer verbunden sind mit den Abfällen der menschlichen Gesellschaft, die vom Müll leben und in ihm gedeihen, sind für Kabakov das Sinnbild des real existierenden Sozialismus sowjetischer Prägung, während die Engel die menschliche Sehnsucht nach etwas Höherem symbolisieren. Diese zwei Seiten der russischen Existenz im 20. Jahrhundert sind allgegenwärtig in Kabakovs Werken wie auch in den Äußerungen, die er Kerstin Stutterheim und Niels Bolbrinker gegenüber macht.
„Ilya & Emilia Kabakov und die Kunst der ‚totalen' Installation" – schon dieser für einen Film eher ungewöhnliche Untertitel, der eigentlich viel besser zu einer wissenschaftlichen Arbeit oder einem Essay in einem Ausstellungskatalog passen würde, deutet das seltsame und überaus problematische Verhältnis zwischen den beiden Filmemachern und dem von ihnen Porträtierten an. Auf der einen Seite ist „Fliegen und Engel" natürlich eine klassische Künstlerdokumentation, die sich bemüht, dem Zuschauer das Leben und das Schaffen Kabakov näherzubringen. Als solche profitiert sie vor allem von dessen ungeheuer reflektierten Aussagen. Seine eigene Einschätzung seiner Arbeiten wird dabei zu einem Korrektiv für eine Kunstgeschichtsschreibung und -kritik, die sein Werk vor allem mit westlichen Augen und Maßstäben betrachtet.
Kabakovs Erzählungen von den Zuständen in der Sowjetunion unter Stalin, Chruschtschow und später dann Breschnew eröffnen durchaus eine neue Perspektive auf seine frühen Illustrationen wie auch auf seine Experimente mit Bildern und Worten sowie auf seine neuesten raumgreifenden Installationen. Seine Persönlichkeit und sein Leben sind, wie er deutlich betont, von einer vielfachen Gespaltenheit geprägt. Diese Gleichzeitigkeit verschiedener Rollen und Existenzen war für den immer wieder von Zensur und Repressalien bedrohten Künstler ein notwendiger Schutz. Aber – und genau damit beginnt Kerstin Stutterheims und Niels Bolbrinkers höchst prekäre Komplizenschaft – während Kabakov in seinen Selbstaussagen gerade diese Zersplitterung betont, konstruieren die beiden Filmemacher aus ihr eine neue Einheit. In einem weitaus stärkeren Maße als Kabakovs ‚totale' Installationen, die eine vergangene Wirklichkeit mit den Mitteln der Kunst als utopischen Erinnerungsraum neu erschaffen und so ein zentrales Projekt der westlichen Moderne an seinen logischen Endpunkt führen und damit zugleich dekonstruieren, ist „Fliegen und Engel" ein Produkt der Schattenseiten modernistischer Ideen.
Die beiden Filmemacher treiben Kabakovs Konzepte mit ihren russischen Alltagsbildern, die vor allem in den in Gemeinschaftswohnungen spielenden Szenen extrem inszeniert, also künstlich, wirken, einseitig auf die Spitze. Aus der ‚totalen' Installation, die letztlich eine Gegenwirklichkeit schafft, wird letztlich ‚totalitäres' Kino, das jede Realität jenseits der Filmbilder negiert. Während Kabakov sich erinnert, wie er die Sowjetunion erfahren hat und daraus schöpft, sagen Kerstin Stutterheims und Niels Bolbrinkers Bilder: „So war es." Die vielschichtige, innerlich zersplitterte Künstlerpersönlichkeit wird von ihrem Film letztlich dann doch auf den widerständigen Individualisten, den Künstler ganz im Sinne des westlichen Denkens und seines Marktes, reduziert. Für ihn macht „Fliegen und Engel" Werbung.