Ein amerikanischer Seifenhersteller hatte in den Neunzehnhundertdreißigern die clevere Idee, die Transportboxen seiner wohlriechenden Pflegeprodukte mit dem Bauplan eines Autos zu bedrucken. Mit etwas handwerklichem Geschick und hinzumontierten Rädern konnten die Kinder sodann in ihrem selbstgebauten Gefährt die Hänge herabrasen. Der einprägsame Name „Seifenkiste“ war geboren – und trotz des medialen Überangebots erfreuen sich die Flitzer auch noch siebzig Jahre später großer Beliebtheit. So werden alleine in Deutschland jährlich an die fünfzig Rennen veranstaltet. Dass sich der Sport seit dem ersten deutschen Rennen in Oberursel im Jahre 1904 gewandelt hat, ist logisch. Frei nach dem Motto „Höher, schneller, weiter“ werden die Gefährte immer mehr auf die individuellen Fahrer abgestimmt und aus windschnittigen Fieberglaskonstruktionen montiert. Dass ein finanzieller Großaufwand für den Erfolg letztlich nicht notwendig ist, beweist die kleine Heldin in André F. Nebes Kinderfilm „Das große Rennen“. Mit Witz und Verstand fährt sie direkt von der Rennpiste in das Herz der Zuschauer…
Die auf einem maroden Bauernhof im irischen Hinterland lebende Mary (Niamh McGirr) hegt den Traum, später einmal eine erfolgreiche Rennwagenkonstrukteurin zu werden. Denn wenn es etwas gibt, das die Elfjährige über alles liebt, ist es die Geschwindigkeit. Als in ihrem Heimatdorf ein Seifenkisten-Derby angekündigt wird, ist sie sofort Feuer und Flamme. Doch wie soll sie mit ihrer selbstgezimmerten Kiste gegen den neureichen Schulrowdy Michael (Eoin McAndrew) und dessen Hightech-Gefährt ankommen?
Wäre André F. Nebe seiner ursprünglichen Berufung gefolgt, könnte man allerhöchstens in den deutschen Gerichtssälen ein von ihm inszeniertes Schauspiel beobachten. Glücklicherweise entschied sich der gebürtige Berliner nach dem bestandenen Staatsexamen doch für den künstlerischen Weg und absolvierte erfolgreich ein Regiestudium. Nach ersten Gehversuchen im Kurzfilmbereich gelingt Nebe mit „Das große Rennen“ ein toller Debütfilm, der mit der notwendigen Ernsthaftigkeit das Abenteuer der pfiffigen Heldin erzählt. Denn Marys Leben auf dem irischen Land ist beileibe kein Zuckerschlecken, wie es Hollywood-Filme nur zu gerne propagieren. In der Schule wird sie aufgrund ihrer bäuerlichen Herkunft gehänselt und muss sich gegen rücksichtslose Tintenattacken zur Wehr setzen. Auf dem heimischen Bauernhof hingegen wird sie fest beim Füttern der Tiere und dem Verrichten der Hausarbeit eingespannt. Zu allem Übel knatscht es auch noch in der Beziehung ihrer Eltern.
Allerdings verpackt Drehbuchautor Rowan O’Neill diese Probleme in einer herrlichen Gewitztheit, so dass der Film stets ein leichtfüßiger Genuss für die kleinen Zuschauer bleibt. Mit ihrem besten Freund Tom (Jonathan Mason) wettet Mary morgens, wer das erste Opfer der fiesen Mitschülerattacken wird. Den herumflatternden Hühnern tritt sie beim Eiersammeln mit einem Sturzhelm gegenüber. Einzig die Beziehungsprobleme ihrer Eltern kann sie nicht kitten – und gerade diese realitätsnahe Entwicklung hebt „Das große Rennen“ wunderbar von den rosaroten Illusionen der Traumfabrik ab.
Die aufgeweckte Filmdebütantin Niamh McGirr geht in ihrer Rolle als mutige Rennfahrerin voll auf. Mit glänzenden Augen verfolgt sie ein Kartrennen, bastelt mit überzeugender Entschlossenheit an der eigenen Seifenkiste und harmoniert mit ihrem Filmfreund Jonathan Mason so, als würden sie sich bereits seit Sandkastentagen kennen. Unterstützung finden die beiden Nachwuchsakteure in Colm Meaney (Layer Cake, Die Commitments, Con Air) und Susan Lynch (From Hell, Lang lebe Ned Devine), die als Marys Eltern auftreten. Gewohnt souverän gibt Meaney den Vater, der trotz seiner strengen Art ein gutmütiger Kerl ist und langsam das Träumen für sich wiederentdeckt. Die Mutterfigur erfordert dagegen größeres Fingerspitzengefühl. Sie strebt nach einem Neuanfang abseits des Bauernhofes – eine Entscheidung, die für Kinder nur schwer nachzuvollziehen ist. Aber Susan Lynch agiert sehr feinfühlig und vermeidet es, ihre Rolle in eine Hassfigur abgleiten zu lassen.
Gewürzt mit irischer Sturköpfigkeit und einer angenehmen Portion bitterer Süße erzählt „Das große Rennen“ von dem Festhalten an den eigenen Träumen, ohne dabei die Sinne der kleinen Besucher mit zuckersüßem Hollywoodkitsch zu verkleben. Aufgrund dieser aufrichtigen Herangehensweise, die auch vor traurigen Ereignissen nicht die Augen verschließt, ist Marys Abenteuer ein empfehlenswerter Film für die ganze Familie, bei dem sicherlich auch die älteren Zuschauer der kleinen Heldin begeistert die Daumen drücken werden.