Wenn Wong Kar-Wai an einem Martial-Arts-Film arbeitet, ist dies ein langwieriger Prozess. „Die verlorene Zeit" feierte zwar 1994 seine Premiere, fertig war der Regisseur mit dem Werk aber nicht. Erst satte 14 Jahre später gelang es dem immer nur mit dicker Sonnenbrille auftretenden Filmemacher aus Hongkong seine finale Version fertigzustellen und als „Ashes of Time: Redux" zu veröffentlichen. Auch mit seinem neuen Epos „The Grandmaster" rang Wong extrem lange: Weit über ein Jahrzehnt trug er die Idee bereits mit sich herum, als die Produktion begann, die sich noch einmal über fünf Jahre hinzog. Der Perfektionist verlangte von seinen Schauspielern vor dem Dreh ausgiebiges Training, danach brauchte er wieder sehr lange für die Arbeit im Schneideraum. Über vier Stunden lang soll die erste Version gewesen sein, die Wong bis auf 130 Minuten herunterkürzte – in dieser Fassung kam „The Grandmaster" Anfang 2013 in die chinesischen Kinos. Für den westlichen Markt hat Wong Kar-Wai eine noch einmal rund fünfzehn Minuten kürzere Version erstellt: Mit dieser eröffnete er die Berlinale 2013 – weitere Veränderungen in der Zukunft sind aber sicher nicht ausgeschlossen. Und es ist durchaus nachvollziehbar, womit sich der Filmemacher so schwer tat, schließlich erzählt er hier keine Geschichte im klassischen Sinne. Die (männliche) Hauptfigur mag der legendäre Ip Man sein, dennoch ist dies weder ein Biopic noch ein Actionfilm. Nein, „The Grandmaster" ist ein melancholischer und stark stilisierter Martial-Arts-Bilderreigen, mit dem die Schönheit der KampfKUNST gefeiert wird.
1936 lebt der wohlhabende 40-jährige Martial-Arts-Lehrer Ip Man (Tony Leung) im südchinesischen Foshan, wo er sich voll und ganz der Weitergabe der Kung-Fu-Prinzipien widmen kann. Eines Tages kommt der aus Nordchina stammende Großmeister Gong Baosen (Wang Qingxiang) in die Stadt. Er will mit einer Zeremonie abtreten und sich dabei mit einem jüngeren Kämpfer messen, an den er so sein Erbe übergibt. In der Heimat hat er das Ritual mit seinem Ziehsohn Ma Shan (Zhang Jin) durchgeführt, im Süden fällt die Wahl nun auf den unbesiegten Ip Man, der auch diesen Kampf für sich entscheidet – sehr zum Leidwesen von Gongs Tochter Gong Er (Zhang Ziyi), die den verheirateten Ip Man sogleich ihrerseits herausfordert – ein Duell mit fast romantischer Note. Doch kurz darauf bricht der Krieg auch über Foshan herein und die japanischen Invasoren fallen ein. Ip Man verliert über die Jahre nicht nur seine Familie, sondern auch seine Stellung und verarmt. Auch Gong Er durchlebt eine Leidenszeit und wird von Rache getrieben, nachdem der mit den Japanern kollaborierende Ma Shan ihren Vater getötet hat. Ip Man und Gong Er begegnen sich indes erst Anfang der 50er Jahre wieder.
Bis auf eine gewichtige und geschickt gesetzte Rückblende ist „The Grandmaster" weitgehend linear erzählt, dennoch unterscheidet er sich deutlich von den anderen Filmen, die über die Martial-Arts-Legende Ip Man in der jüngeren Vergangenheit erschienen sind („Ip Man" und „Ip Man 2" von Wilson Yip, „IP Man Zero" von Herman Yau). Während dort die filmische Biografie des Kung-Fu-Künstlers mit ihren wichtigen Stationen vor dem klar skizzierten Hintergrund historischer Umwälzungen geschrieben wird, ist Ip Mans Lebensgeschichte für Wong Kar-Wai nur das Rohmaterial, aus dem er sich einzelne Momente herausgreift. Die wiederum verknüpft er mit einem sehr losen erzählerischen Faden: einiges wird ganz ausgelassen, anderes wie Ip Mans Widerstand gegen die japanischen Besatzer nur ganz kurz gleichsam nebenbei angerissen. Selbst als der Protagonist seine Familie verlassen muss, verzichtet Wong auf eine dramatische Zuspitzung. Stimmungen haben den Regisseur schon immer mehr interessiert als äußere Spannung, die assoziative Verknüpfung ist ihm lieber als ein dramaturgisches Korsett mit eindeutiger (Akt-)Struktur und säuberlich herausgearbeiteten Charakterbögen. Entsprechend lässt er seinen vermeintlichen Protagonisten Ip Man hier zwischendrin fast links liegen und widmet sich anderen Figuren, vor allem Gong Ers Streben nach Rache nimmt breiten Raum ein.
Neben Ip Man, Gong Er und dem Widersacher Ma Shan steht gelegentlich ein weiterer Martial-Arts-Kämpfer namens The Razor (Chen Chang) im Fokus, die Figur wird dann aber bald wieder fallengelassen, sie ist ganz offensichtlich Wongs intensivem Schnittprozess zum Opfer gefallen. In der jetzigen Fassung des Films wäre der Kuomintang-Agent im Prinzip überflüssig – wäre da nicht eine herausragende Kampfszene. Und auf die kommt es dem Regisseur an, denn „The Grandmaster" ist weniger die Geschichte einer oder mehrerer Personen, sondern eine Ode an die Prinzipien und Werte des Kung Fu, die hier immer wieder in poetische Worte gekleidet werden und deren Prunkstück die insgesamt gar nicht so zahlreichen Kämpfe sind. Ip Man und Gong Er verkörpern dabei mit ihrer unterschiedlichen Herkunft, ihren gegensätzlichen Stilen und nicht zuletzt als Mann und Frau so etwas wie die zwei Seiten derselben Medaille. Wie in seinen großen Liebesdramen „In The Mood For Love" und „2046" deutet Wong beim ersten Aufeinandertreffen der beiden eine tiefe Bindung an, die allerdings keine romantische Erfüllung finden kann. Immer wieder klingt in „The Grandmaster" die sehnsuchtsvoll-melancholische Stimmung aus diesen früheren Filmen an, die Kampfszenen stilisiert Wong dazu passend zu poetischen Bewegungsstudien.
Das fängt schon mit der ersten Szene an, in der sich Ip Man erst mit einer Gegnerhorde und dann einem famosen Einzelkämpfer (Cung Le aus „Dragon Eyes") messen muss. Wong gibt hier gleich den Ton vor: Die Kämpfe sind keine Actionszenen im herkömmlichen Sinne, sondern der Regisseur zelebriert die Kunst des Kung Fu. Schon bei den eleganten Bewegungen der Kontrahenten, die immer wieder in verlangsamten Aufnahmen förmlich ausgekostet werden, ist zu sehen, dass sich das intensive Training der Schauspieler gelohnt hat - gerade Zhang Ziyi als Meisterin der „64 Hände" erscheint hier noch einmal eine Spur anmutiger als in Ang Lees „Tiger & Dragon". Für die Kampf-Choreographie hat Wong mit Yuen Woo-Ping zudem einen Experten engagiert, der nicht nur mit „Iron Monkey" einen der stilbildenden Filme des Genres schlechthin gedreht hat, sondern der als Action-Regisseur bei Klassikern wie „Matrix" und „Tiger & Dragon" auch die sogenannte „Wire Fu"-Technik auf ein neues Level gehievt hat. Die Methode, bei der die Schauspieler an Drahtseilen durch die Luft gewirbelt werden, kommt auch hier ausführlich zur Anwendung – mit atemberaubender Wirkung.
Hier wird bevorzugt bei prasselndem Regen oder bei dichtem Schneegestöber gekämpft, bei jedem Schlag werden uns die zur Seite spritzenden Wassertropfen gezeigt – eingefangen von der famosen Kameraarbeit des Franzosen Philippe Le Sourd („Sieben Leben", „Ein gutes Jahr"). Dabei sind die Szenen erstaunlich monochrom und farbleer, in einzelnen Momenten wähnt man sich fast in einem Schwarzweiß-Film, was durch Ip Mans Kleidung (schwarzes Gewand, weißer Hut) noch verstärkt wird. Die Kampfszenen werden damit zu so etwas wie Gemälden in Bewegung. Wenn bei einem Schwertkampf nicht das Blut der Opfer über die Leinwand verteilt wird, sondern das Innenfutter ihrer dicken Winterjacken oder wenn in der folgenden Szene ein scheinbar nicht enden wollender Zug durch das Bild fährt dann besitzt dies enorme poetische Ausdruckskraft: Wong Kar-Wais Kung-Fu-Kämpfe sind eigene kleine Kunstwerke. Und sie werden immer von der passenden Musik untermalt: Das Spektrum reicht von der chinesischen Oper über ein Stabat Mater des jungen Italieners Stefano Lentini bis zu legendären Klängen aus Ennio Morricones „Es war einmal in Amerika".
Fazit: „The Grandmaster" ist kein Action-Biopic wie „Ip Man", sondern Wong Kar-Wai inszeniert eine hochästhetische Folge von stilisierten Martial-Arts-Kämpfen und melancholischen Stimmungsbildern.