John Madden ist kein Regisseur, der seine Filme schnell aus der Hüfte schießt. Seit seinem größten Erfolg „Shakespeare in Love" hat er sich immer Zeit zwischen seinen Filmen gelassen – stets zwei bis vier Jahre. Trotzdem konnte keiner seiner Filme seither („Killshot", „Der Beweis", „Corellis Mandoline") auch nur ansatzweise solche Heerscharen in die Kinos locken wie sein historischer Liebesfilm aus dem Jahre 1998. Sein neuer Film „Eine offene Rechnung" ist nun immerhin thematisch brisant genug, um Interesse zu wecken. Dem schwierigen historischen Stoff der Mossad-Geschichte aber sind Madden und seine Autoren mit ihrem Drama/Thriller-Hybriden allerdings nicht immer gewachsen.
Der Film setzt im Israel des Jahres 1997 ein: Die junge Journalistin Sarah Gold (Romi Aboulafia) hat gerade ein Buch veröffentlicht, in dem sie die Geschichte einer Mossad-Aktion vom Jahreswechsel 1965/66 beschreibt, an der auch ihre eigene Mutter Rachel Singer (Helen Mirren) beteiligt war. Ihr damaliger Kollege David (Ciarán Hinds) ist gerade nach langer Zeit im Ausland wieder nach Israel zurückgekehrt und Stephan (Tom Wilkinson) ist inzwischen zu einem wichtigen Mann im Geheimdienst aufgestiegen. In Rückblenden wird aufgefächert, wie das Trio seinerzeit (gespielt von Jessica Chastain, Sam Worthington und Marton Csokas) versuchte, in Ostberlin den „Chirurgen von Birkenau" Dieter Vogel (Jesper Christensen) ausfindig zu machen, zu ergreifen und für einen Gerichtsprozess nach Israel zu bringen. Nach einem katastrophal gescheiterten Versuch, die DDR zu verlassen, wird Vogel auf der Flucht von Rachel erschossen. Zumindest ist dies die offizielle Fassung - aber was ist damals wirklich passiert?
Der Stoff von „Eine offene Rechnung" erscheint fast zu nachdenklich für die Autoren Matthew Vaughn und Jane Goldman, die vorher gemeinsam die Drehbücher für „Kick-Ass" und „Der Sternwanderer" verfasst und dabei von Comic- und Belletristik-Vorlagen adaptiert hatten. Auch ihr jüngster Film hat ein Vorbild, schließlich handelt es sich bei „Eine offene Rechnung" um ein Remake des israelischen Films „Ha-Hov" von 2007, der als „Der Preis der Vergeltung" auch im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde. In Zusammenarbeit mit Co-Autor Peter Straughan ist ein Skript entstanden, das die Erwartungen eines westlichen Publikums sowohl erfüllt als auch herausfordert. Dabei gehört es sozusagen zum guten Ton, dass sich eine vorläufige Wahrheit später ganz anders darstellt.
Der Film ist zuallererst ein Agenten-Thriller mit leicht nostalgischer Note, mit versteckten Kameras und heimlichen Dokumentenübergaben. In einer ausführlichen Rückblende auf die letzten Tage des Jahres 1965 werden die Schritte der dreiköpfigen Mossad-Gruppe nachgezeichnet, die Konflikte und emotionalen Verwerfungen innerhalb des Teams und schließlich die Frage, was wirklich mit Dieter Vogel geschah. Nach etwas mehr als der Hälfte des Films kommt es zu einem Bruch, ab dem „Eine offene Rechnung" schlichtweg redundant wird. Wenn sich die Zeitebenen zu vermischen beginnen, während Vogels Schicksal bereits offenbar geworden ist, findet Madden keinen Ansatz, die Spannung der ersten Hälfte aufrecht zu erhalten.
Das große Problem von „Eine offene Rechnung": Madden und seine Autoren sind nicht bereit, die moralischen und historischen Fragen hinter der Handlung konsequent zu durchdenken und umzusetzen. Die Figuren äußern durchaus Begründungen für ihr Handeln – es geht da, soviel kann verraten werden, um Verantwortung gegenüber dem israelischen Volk, um historische Perspektiven, und natürlich um die Wahrheit. Und ganz am Rande wohl auch um die Beziehung einer Tochter zu ihren Eltern, die beide darin ausgebildet wurden, überzeugend zu lügen. Die großen Perspektiven aber, von denen seine Figuren sprechen, setzt Madden nicht in involvierende Bilder um – so wirkt das letzte Drittel des Films wie ein nur lose befestigtes Anhängsel, in dem die Protagonisten lange nicht mehr so überzeugend motiviert sind wie zuvor.
Das liegt beileibe nicht an den Darstellern: Sam Worthington („Avatar - Aufbruch nach Pandora") zeigt hier überraschende Qualitäten und vor allem Jessica Chastain („The Tree of Life") und Helen Mirren („Die Queen") geben dem Film jene menschliche Komplexität, die er dringend benötigt. Seiner Thematik nach hätte „Eine offene Rechnung" eine komplexe Auseinandersetzung mit Fragen nach dem Wesen historischer Wahrheit werden können; zugunsten etwas oberflächlicher Thrillerelemente kommt dieser Aspekt aber deutlich zu kurz. So bleibt ein zumindest phasenweise spannendes Kinoerlebnis, dem es letztendlich aber an Biss und Relevanz mangelt.