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    Die Eleganz der Madame Michel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Eleganz der Madame Michel
    Von Sascha Westphal

    Das Programmkino – oder wie es Neudeutsch so schön heißt: das Arthouse - ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Die Zeiten, in denen sperrige, kontrovers zu diskutierende Filme zu großen Erfolgen werden konnten, liegen mittlerweile schon sehr, sehr lange zurück. Statt so fordernder Künstler wie Ingmar Bergman (Wilde Erdbeeren), Ôshima Nagisa (Nacht und Nebel über Japan) oder auch Peter Greenaway (Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber) dominieren nun Filme wie Christophe Barratiers Die Kinder des Monsieur Mathieu, Peter Webbers Das Mädchen mit dem Perlenohrring oder Claude Berris Zusammen ist man weniger allein die Arthouse-Welt. Eine ungeheure Sehnsucht nach gediegener Unterhaltung und mehr noch nach Harmonie scheint momentan einen Großteil der Programmkino-Besucher umzutreiben. Das Arthouse ist zu einer Art Wohlfühl-Kino geworden, das vor allem mit leicht märchenhaften, meist konservativ erzählten Geschichten und sympathisch schrulligen Figuren punkten kann. Insofern stehen die Chancen für „Die Eleganz der Madame Michel“, Mona Achaches Verfilmung von Muriel Barberys Bestseller „Die Eleganz des Igels“, eigentlich sehr gut. Aber vielleicht hat diese melancholische Komödie, mit der die junge französische Filmemacherin überaus eindrucksvoll im Kino debütiert, auch ein paar Stachel und Widerhaken zu viel.

    Paloma (Garance Le Guillermic), die elfjährige Tochter eines Regierungspolitikers und einer Neurotikerin, ist mehr als nur überdurchschnittlich intelligent. Ihre kunstvollen Zeichnungen und Cartoons weisen sie unzweifelhaft als Genie aus, und alles, was sie so im Lauf eines Tages sagt, ist weitaus tiefsinniger als das Gerede der meisten Erwachsenen. Ihr sezierender Blick auf ihre Familie und die anderen Bewohner des alten, luxuriösen Hauses mitten in Paris hat ihr alle kindlichen Träume und Illusionen geraubt. Auch ein goldener Käfig bleibt ein Käfig, aus dem es kein Entkommen gibt. Also hat Paloma beschlossen, ihrem Leben in 165 Tagen, an ihrem zwölften Geburtstag, ein Ende zu setzen. Bis dahin will sie einen Film über ihre Familie drehen, der alles erklärt. Bei ihren Streifzügen durch das Haus stößt sie auf das Geheimnis von Madame Michel (Josiane Balasko), der kratzbürstigen Concierge, und freundet sich mit ihr an. Einen weiteren neuen Freund findet Paloma in Kakuro Ozu (Togo Igawa), einem älteren Japaner, der gerade in das Haus eingezogen ist und sich von Anfang an sehr um die alles andere als gewöhnliche Concierge bemüht…

    Das alte Haus, in dem das Mädchen, die Concierge und der Milliardär eine seltsame, verschworene Gemeinschaft bilden und dabei wirklich alle sozialen Grenzen einfach ignorieren, ist mit seinen fünf Luxuswohnungen und dem kleinen Appartement der Hausmeisterin ein verwunschenes Reich, ein märchenhafter Ort, der eben so stark in der Fantasie der Filmemacherin wie in der Pariser Realität verankert ist. Zugleich trägt dieses Gebäude, das der Film kaum einmal verlässt, und wenn dann auch meist nur für einen kurzen Abstecher über die Straße oder bis zur nächsten Ecke, alle Merkmale eines Mikrokosmos’. Es ist eine Welt en miniature, gesehen mit den Augen dreier Außenseiter, von denen nicht nur Madame Michel weit mehr als nur eine Märchenheroine ist.

    Der reiche Japaner, der nicht nur Ozu heißt, sondern auch einem Film des japanischen Meisterregisseurs Yasujiro Ozu („Die Reise nach Tokio“, „Ein Herbstnachmittag“) entstammen könnte, ist zweifellos zu perfekt, um wahr zu sein. Aber trotzdem gelingt es Mona Achache, auch diese gänzlich überhöhte Figur zu erden. Sein Reichtum wie auch die simple Eleganz seiner Wohnung, die direkt aus einem Katalog für Lifestyle à la Japan kommen könnte, sind für die junge Filmemacherin eher ironische Attribute, mit denen sie einen gewissen Exotismus befriedigt. Aber spätestens in den Szenen zwischen ihm und der Concierge werden all diese Äußerlichkeiten unbedeutend. In ihnen entwirft Mona Achache eine utopische und damit durchaus auch schmerzliche – schließlich steht sie in einem sehr deutlichen, nie verleugneten Kontrast zu den realen gesellschaftlichen Verhältnissen – Vision einer menschlichen Gemeinschaft, die sich von dem zynischen Materialismus unserer Zeit befreit hat. Die Grenzüberschreitung, die Kakuro Ozu, ganz selbstversändlich, und Madame Michel, nur sehr zögerlich, riskieren, ist letztlich auch die Antwort auf Palomas Suche. Ihr angekündigter Selbstmord und ihr Film, dieses schonungslose Dokument einer erschreckend oberflächlichen, das heißt in ihrem Innern gänzlich leeren Familie sind die ins Negative, also Destruktive gewendete Form der Grenzüberscheitung.

    Natürlich reiht sich gerade Josiane Balaskos Reneé Michel, der Igel, wie sie von Paloma genannt wird, perfekt in die Reihe der Protagonisten aus „Die Kinder des Monsieur Matthieu“, „Zusammen ist man weniger allein“, Paris, Paris und nicht zuletzt aus Dany Boons Überraschungserfolg Willkommen bei den Sch’tis ein. Diese sich immer etwas mürrisch gebende Frau, die um keinen Preis auffallen will und sich am liebsten in ein Hinterzimmer zu ihren Büchern zurückzieht, ist gerade in dem Maße sonderlich, dass der Betrachter sie einfach in sein Herz schließen muss. Doch – und das verliert Mona Achache nie aus den Augen – ihr skurriles Verhalten, ihr Leben als Igel, der sich seine eigene Höhle geschaffen hat, ist ihre einzige Chance auf Individualität. Als Concierge ist sie in den Augen der anderen abgestempelt, also entspricht sie ganz bewusst genau dem (Negativ-)Klischee von einer Concierge. Das ist schließlich das Einzige, was die Bewohner des Hauses sehen wollen.

    Aber es sind nicht nur seine drei Protagonisten, die Mona Achaches Spielfilmdebüt von den typischen Repräsentanten des Wohlfühl-Kinos absetzen. Anders als Christophe Barratiers Filme, die einfach in einer Form von Nostalgie schwelgen und damit einfach nur moderne Sehnsüchte auf eine frühere, ähnlich schwierige und zerrissene Zeit projizieren, scheint „Die Eleganz der Madame Michel“ gänzlich aus der Zeit herausgefallen zu sein. Mona Achaches mise-en-scène – und dieser Begriff ist in diesem Fall unerlässlich, schließlich besticht ihre Inszenierung durch eine virtuose Organisation der Räume – ist in diesem Sinne keineswegs altmodisch, auch wenn die warmen, dunklen Töne ihrer Bilder diese Assoziation nahelegen. Sie ist vielmehr auf eine kunstvolle Weise zeitlos und damit weitaus moderner als Barratiers oder Webbers eher modische Klassizität. In perfekt komponierten Cinemascope-Einstellungen finden die Ideen und Eindrücke ihrer drei Protagonisten einen kongenialen Ausdruck. Immer wieder inszeniert Mona Achache die Räume, in die sich Paloma, Kakuro Ozu und Reneé zurückziehen, als Wohn-Höhlen, als Schutzräume, in denen diese drei sich ihre eigene Realität erschaffen. Doch die Welt der anderen ist auch permanent präsent. Schon eine kleine Veränderung des Fokus oder der Tiefenschärfe reicht, um die Rückzugräume zum Einsturz zu bringen. Die alltägliche Welt ist übermächtig. Wer sich ihr widersetzen will, muss extrem findig sein – so wie Reneé, oder eben wie die Filmemacherin selbst.

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