Das Dokumentargenre ist in der letzten Zeit von einem enormen Aufwind ergriffen. Eine Entwicklung, die einerseits verwundert, da Informationen mittlerweile kostengünstig zum Beispiel via Internet verfügbar sind, anderseits aber dem Zeitgeist entspricht, da die Gesellschaft zusehends zu einer Wissensgesellschaft wird (werden soll?). Dokumentationen, die in gewisser Hinsicht Wissen in einer visuell ansprechenden Form darbieten, wurden früher klassischerweise für das Fernsehen produziert. Mit der Zeit wurde dann das ästhetische Potential dieses Genres entdeckt und ausgeschöpft. Inzwischen ist es keine Seltenheit, dass Dokumentarfilme in den Lichtspielhäusern zu sehen sind (zuletzt: Söhne, ostPunk! Too much future, Prinzessinnenbad, Traders’ Dreams, Der große Ausverkauf, etc.). Zudem gibt es, beim Deutschen Filmpreis beispielsweise seit dem Jahr 2000, eigenständige Kategorien bei Preisverleihungen und Festivals. Ein anderer Grund für die Belebung des Genres ist gewiss in der technischen Entwicklung zu sehen. Nie war es einfacher, mit leichtem Gepäck, was entscheidend für Dokumentarfilmer ist, auf die Jagd nach Bildern zu gehen. Bei „Hippie Masala“, dem neuen Dokumentarfilm von Ulrich Grossenacher und Damarisu Lüthi, spielte letztgenanntes bestimmt eine wichtige Rolle. Berichtet er doch von den letzten Überlebenden einer Generation von Auswanderern in Indien – den Hippies.
Als die Hippies in den 60er Jahren auf ihrem Trip waren, nahmen viele von ihnen das Wort beim Namen und machten einen eben solchen in den fernen Osten, um dort ihre Erfüllung, Freiheit oder Erleuchtung zu finden. „Hippie Masala“ versucht fünf solcher Reisegeschichten zu rekonstruieren und besuchte dazu in Indien dort noch lebende Hippies. Zunächst ist da Cesare. Cesare ist Italiener und mittlerweile ein hinduistischer Yogi, der asketisch lebt und sein Leben der Religion widmet. Das beinhaltet die Lebensweise nach den Prinzipien des Yoga, die, so Cesare, seit Jahrtausenden das Inhalieren von Gras beinhaltet und weniger Gymnastik fordert, als sich manch einer vielleicht vorstellen könnte. Einen ähnlichen Weg wollte auch die aus Belgien stammende Meera gehen. Allerdings hat sie in Indien keinen Guru gefunden, der ihr den Weg zu einem erleuchteten Dasein zeigen wollte, weshalb sie heute zwar ebenfalls asketisch, aber eremitenhaft allein in der Einöde leben muss. Ganz anders erging es da Hanspeter aus der Schweiz. Dieser betreibt in der Nähe des Himalaja einen kleinen Bergbauernhof und versorgt sich und seine Familie mit diesem weitestgehend autark. Die vierte Lebensgeschichte ist die von Roland, der Maler ist, und mit einem seiner früheren Modelle eine Familie gegründet hat. Seine Familie liefert Roland heute die Motive für seine Bilder. Last but not least sind da noch die Zwillingsschwestern Erica und Gillian, die gelernte Modedesignerinnen sind und damit nach wie vor ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Dies gelingt ihnen im berühmten kleinsten Bundesstaat Indiens – Goa. In dem an der Küste gelegenen Paradies glauben die beiden, auf der langen Suche nach dem Glück ihr Traumziel gefunden zu haben. Hier ist das Leben eine einzige große Party, deren Besucher ihnen zudem ihre Kleidungsstücke abkaufen.
Interessanterweise berichtete die Neue Züricher Zeitung nach der Premiere des Films in der Schweiz, wo die Dokumentation bereits eine Nominierung für den Schweizer Filmpreis einheimsen konnte, über den Film „Hippie Masala“, dass er nicht urteile. Eine Position, die mit Nichten zu vertreten ist. Inzwischen gehört zwar zum guten Ton im Bereich der Dokumentationen, dass auf einen erläuterten Berichterstatter verzichtet wird. Deswegen fällt eine Wertung, ein Urteil von Seiten der Filmemacher jedoch nicht automatisch unter den Tisch. Ganz im Gegenteil werden andere filmische Ausdrucksmittel wichtiger, wenn es darum geht, Sinn und Wertung zu konstruieren. Im Fall von „Hippie Masala“ geschieht dies durch die Anordnung der gewonnenen Fragmente der Lebensgeschichten und der Lebensumstände der Portraitierten. Aus diesen Bruchstücken baut der Film zunächst eine Utopie der „Selbstverwirklichung“ auf, die von den Ausgewanderten im fremden Land gefunden wurde. Das nicht nur geträumte Leben, also der gelebte Traum, wird in der Folge von den Filmemachern getrübt. Nach und nach zeigen sie die Schattenseiten in Utopia. Insofern ist ganz klar ein Statement formuliert, das durch die Szenenauswahl und die Szenenanordnung konstruiert wird.
Angenehm bei der Gestaltung ist, in welcher Form beim Schnitt die Szenen montiert worden sind. Dabei ist eher zuviel Material in den Film hineingeraten, als man das von „sauberen“ Dokumentationen erwartet. Details, in denen die Dargestellten quasi aus ihrer Rolle fallen, Dinge erzählen oder machen, die sie normalerweise vor Kameras nicht machen würden, und manchmal auch abwinken, als wollen sie das Zeichen geben, dass hier geschnitten werden solle, wurden dankenswerter Weise im Film gelassen. Dadurch entstehen heitere Momente, die in ihrer gelösten Atmosphäre Momente der ungeschminkten Wahrheit enthalten. Denn: Den Umgang mit den Medien sind alle der sechs Personen gewohnt. Sie alle sind im Westen aufgewachsen und kennen Filme, Fernsehen und auch Internet – der Yogi Cesare möchte sogar in seine Höhle einen Internetanschluss integrieren, damit er seine Weisheiten der Welt mitteilen kann. Hier zeigt sich schon, dass die Filmemacher bei der Auswahl der Charaktere ein gutes Händchen hatten und die skurrilsten und medienwirksamsten Auswanderer zu ihren Hauptdarstellern erkoren.
Das Thema der Heimatflucht zählt ebenfalls zur Erfolg versprechenden Gesamtkonzeption. Das Privatfernsehen produziert im Moment zahlreiche ähnliche Formate – Würmer also, die dem Fisch anscheinend schmecken. Doch ist hier der Ansatz von „Hippie Masala“ im Vergleich nicht zu unterschätzen. Denn dadurch, dass er mit einer anthropologischen Langzeitstudie aufwarten kann, ist er dazu im Stande, die aktuellen, konsequent oberflächlichen Auswanderersendungen zu kontrastieren: Der Traum vom besseren Leben in fremden Ländern ist so alt wie die Menschheit, deren primitive Vorfahren, schenkt man der Evolutionsbiologie oder der Forschung allgemein Glauben, ihrer Steppenheimat ebenfalls den Rücken zugedreht haben, um ihr Glück in der Ferne zu suchen.
Wenn Goethe in seinen Erinnerungen fragt: „Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!“, trifft er des Pudels Kern. Denn die modernen Auswanderer machen eben nichts anderes als das, wozu sie in ihrer eigenen Kultur erzogen wurden. Hanspeter bietet dabei das evidenteste Beispiel – er, Schweizer, errichtet sich einen kleinen Bergbauernhof, und das in einer Landschaft, die der Schweizer gar nicht so fremd ist! Das Wissen darum in der Ferne zu sein, ermöglicht es ihm jedoch, die Simulation seines Traumes am Leben zu erhalten, was ihm wiederum ermöglicht, das zu tun, was er glaubt, in seiner Heimat nicht tun zu können. Alle anderen fallen nicht aus diesem Schema heraus: Cesare, im erzkatholischen Italien aufgewachsen, widmet sich der Religion; Roland war und ist Maler, Meera kämpfte als Hippie für die Gleichberechtigung der Frauen und führt ihren Kampf nun in Indien weiter.
„Hippie Masala“ führt die gesellschaftliche Tendenz ad absurdum. Diesen Verdienst sollte man nun aber nicht unbedingt dem Film selbst anrechen. Was darin zum Ausdruck kommt, ist vielmehr eine immanente Problematik, der nicht zu entkommen ist. Der so genannte Clash of Civilizations wird im Bezug auf den indischen Kulturraum in letzter Zeit immer häufiger thematisiert. Zuletzt in Spielfilmform konnte man in The Namesake das Spiel mit Kulturdifferenzen in umgekehrter Weise beobachten. Hier scheitert die Integration an eben der selben Stelle wie in „Hippie Masala“ – der Verwurzelung in der eigenen Tradition, aus der es in kultureller Hinsicht kein Auskommen zu geben scheint. Ein tragischer Unterton begleitet die Zuschauer in „Hippie Masala“ so auf Schritt und Tritt, auch wenn einem die Erzählungen der oft bekifft, betrunken oder sonst wie berauschten Protagonisten das ein oder andere herzliche Lachen entlocken mögen.