Gaspar Noé versetzt seinen Zuschauern gern Schläge in die Magengrube. In seinen brachialen, ungezügelten Sozialstudien, die eher an surreale Drogentrips als an herkömmliche Dramen gemahnen, avanciert das Publikum regelmäßig zur Zielscheibe des Regisseurs. Obwohl er bislang mit „Menschenfeind", „Irreversibel" und „Enter The Void" nur drei Spielfilme inszeniert hat, gilt Gaspar Noè längst als einer der vielversprechendsten Filmemacher des europäischen Kinos. Mit seinem 40-minütigen „Carne" gewann der gebürtige Argentinier bereits 1991 einen Preis für den besten Kurzfilm in Cannes. In seinem Langfilmdebüt „Menschenfeind" spinnt er die Ereignisse aus „Carne" weiter und führt sie schnurstracks in einen trostlosen Abgrund. Neben der packenden formalen Umsetzung ist es vor allem der eindringlichen Performance von Philippe Nahon („High Tension") zu verdanken, dass sich Gaspar Noés filmischer Frontalangriff als lohnenswert-intensiver Leinwandtrip entpuppt.
In den ersten fünf Minuten wird die Vorgeschichte aus „Carne" rekapituliert: Ein Pferdeschlachter (Philippe Nahon) hegt den Verdacht, dass seine minderjährige autistische Tochter Cynthia (Blandine Lenoir), der er selbst inzestuös zugeneigt ist, ein Opfer sexuellen Missbrauchs wurde. In blinder Wut erschlägt er deshalb einen unschuldigen Arbeitskollegen und wandert dafür ins Gefängnis. „Menschenfeind" setzt nun nach der Entlassung des Schlachters an. Die mittlerweile halbwüchsige Tochter lebt inzwischen in Paris im Heim, während der Schlachter einem Job als Altenheim-Nachtwächter in einem Vorort von Lille nachgeht. Im Streit verprügelt er seine schwangere Freundin (Frankie Pain) – und es wäre kein echter Gaspar Noé, wenn der Mann dabei nicht kräftig zulangen würde. Aus Angst, das ungeborene Kind vielleicht getötet zu haben, flüchtet der Schlachter nach Paris, wo er den Kontakt zu seiner Tochter sucht, aber trotzdem immer weiter seiner misanthropischen Weltsicht verfällt. Schließlich stellt sich für ihn nur noch die Frage, wen er mit den drei Kugeln in seiner Pistole töten soll...
„Jedem sein Leben, jedem seine Moral. Das hier ist die Geschichte eines armen Schluckers. Die Geschichte eines Mannes, einer wie viele andere."
Auch wenn „Menschenfeind" nicht die hässliche Brutalität von „Irreversibel" besitzt, stellt er doch einen schwer zu ertragenden Angriff auf die Moralvorstellungen des Publikums dar. Inhaltlich erreicht Gaspar Noé diese von ihm voll beabsichtigte Schockwirkung, indem er nie auch nur den kleinsten Hoffnungsschimmer aufblitzen lässt. Die pessimistische Perspektive des Protagonisten einnehmend, verflucht der Regisseur mit „Menschenfeind" alles und jeden und formuliert eine radikale und bewusst einseitige Gesellschaftskritik. Auf Hilfe, egal ob von sogenannten Freunden oder der Gesellschaft an sich, braucht der seit seiner Flucht arbeitslose Schlachter, der in einem schäbigen Hotel untergekommen ist, nicht zu hoffen: „Du wirst allein geboren, du lebst allein, du stirbst allein. Allein, immer allein. Und selbst wenn du fickst, bist du allein. Allein mit deinem Fleisch, allein mit deinem Leben." So fasst der Desillusionierte die nihilistische Aussage des Films treffend zusammen.
Noch entscheidender als die bösartige Gesellschaftskritik ist indes die nicht minder radikale Inszenierung des Films. Wie bei seinen späteren Spielfilmen modelliert Gaspar Noé auch schon hier eine pure und experimentelle filmische Erzählung, die den Zuschauer auch abseits des Plots attackiert. Hektische Zooms und harte Reißschwenks repräsentieren die Verlorenheit der Figuren im Breitbildformat. Die schäbigen Settings vom schmierigen Pornokino zum versifften Hotelzimmer, triste Texteinblendungen und das stets präsente Voice-Over des Pferdeschlachters, mit dem er seine irritierende Gedankenwelt nach außen trägt, halten den Kessel permanent unter Dampf. Auffällig sind vor allem die Szenen, in denen der Schlachter eine endlose Mauer abschreitet, seinen irritierenden Gedanken freien Lauf lässt und dabei keiner Menschenseele begegnet. Ebenfalls markant sind die wiederkehrenden Pistolenschüsse auf der Tonspur, die den Betrachter – meist mit heftigen Kameraschwenks verbunden – aus seinem Sitz auffahren lassen. Erzählerische Sprünge und die zunehmende Vermischung von Realität und Fiktion sorgen für zusätzliche Verwirrung. Ob man Gaspar Noé dabei bis zum Ende folgen möchte oder nicht, muss jeder für sich selbst entscheiden: Ein 30-sekündiger Countdown, der das Finale einläutet, eröffnet dem Publikum die Möglichkeit, die Sichtung selbst hier noch abzubrechen.
Fazit: In starken Bildern (Kamera: Dominique Colin) illustriert Gaspar Noé das unumkehrbare Scheitern seines Protagonisten an gesellschaftlichen Strukturen. Wie auch beim Nachfolger „Irreversibel", dessen Anfang den Schlachter in einem Irrenhaus zeigt, ist die Inszenierung von einer größeren Bedeutung als der Plot. Schon mit seinem Erstling gelingt es dem außergewöhnlichen Filmemacher, die Mittel des Kinos auf ebenso kunstvolle wie tyrannische Weise gegen sein eigenes Publikum zu wenden.