Wahnsinnig intensives Kino
Von Michael MeynsStatt Gefängnis und Peitschenhiebe der rote Teppich beim Cannes Filmfestival. Fast zeitgleich mit der Ankündigung von „The Seed Of The Sacred Fig“ für den Wettbewerb des wichtigsten Filmfestivals der Welt wurde auch der Richterspruch bekannt, laut dem der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof wegen Kritik am Regime für acht Jahre in Haft muss. Auf halsbrecherische Weise gelang es dem Goldene-Bär-Gewinner (für „Doch das Böse gibt es nicht“), im letzten Moment über die Berge aus seiner Heimat zu fliehen. Nun wird er auf absehbare Zeit im Exil leben müssen. Auch die Produktion des Films konnte zuvor nur im Geheimen stattfinden.
In den Tagen vor der Weltpremiere in Cannes sahen sich zudem Schauspieler*innen und Mitarbeiter*innen erheblichem Druck ausgesetzt, um den geflohenen Regisseur über diesen Umweg doch noch zu zwingen, den Film zurückzuziehen. Doch dem Regime in Teheran gelang es nicht, die Premiere zu verhindern. Allein diese Aspekte machen den Film zu etwas Besonderem, zu einem Politikum. Doch erst Rasoulofs meisterliche Regie und sein unerbittlicher, aber am Ende doch vor allem trauriger Blick auf die Missstände der iranischen Gesellschaft machen „The Seed Of The Sacred Fig“ zu einem wahrhaft herausragenden Film.
Iman (Missah Zare) arbeitet am Gericht der Revolutionsgarden. Gerade erst ist er befördert worden. Seine Arbeit umfasst unter anderem das Unterschreiben von Todesurteilen, selbst wenn er oft gar nicht die Zeit hat, sich die dazugehörige Akte überhaupt durchzulesen. Der neue Posten erfüllt seine Frau Najmeh (Soheila Golestani) einerseits mit Stolz (immerhin gibt es eine größere Wohnung und eine Waschmaschine).
Andererseits wächst auch die Sorge: Gerade die Töchter Sana (Setareh Maleki) und Rezvan (Mahsa Rostami) müssen nun noch mehr darauf achtgeben, nicht aufzufallen oder sich über den Beruf des Vaters zu äußern. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn seitdem Mahsa Amini durch Polizeigewalt ums Leben gekommen ist, wird das ganz Land von Protesten erschüttert. Als Sadaf, eine Freundin der Töchter, von Polizisten schwer verletzt wird, steht die Familie vor schweren Entscheidungen, die schon lange unter der Oberfläche brodelnde Konflikte mit unbändiger Kraft ausbrechen lassen…
Der berühmte Dramatiker Anton Tschechow hat einmal gesagt: Wenn im ersten Akt ein Gewehr auftaucht, dann muss es im letzten Akt auch benutzt werden. In diesem Sinne ahnt man schon früh, dass die Pistole, die in der ersten halben Stunde von „The Seed Of The Sacred Fig“ gleich dreimal zu sehen ist, im späteren Verlauf noch eine besondere, auch tragische Rolle spielen wird. Die Pistole bekam Iman zur Beförderung, zum Selbstschutz, denn seine neue Position ist heikel, seine Involvierung in die unmenschliche Rechtsprechung des Regimes macht ihn angreifbar und zum potenziellen Ziel der Social-Media-Kampagnen der Protestierenden.
Das gilt besonders in dieser Phase, in der der Iran nach der Ermordung von Mahsa Amini zu explodieren droht. Bei den Massenprotesten kommt es zu zahllosen Verhaftungen und zu brutalen Übergriffen auf die Demonstrierenden. Rasoulof baut immer wieder reale Handyvideos der Proteste ein, sie zeigen rohe, verwackelte Aufnahmen von brutalster Polizeigewalt, von willkürlichen Verhaftungen, vom Einsatz von Streumunition, mit der Protestierende quasi markiert wurden: Wer mit so einer Verwundung in ein Krankenhaus ging, der wurde dort verhaftet, denn seine Teilnahme an den Demonstrationen machte ihn oder sie sofort verdächtig.
„The Seed Of The Sacred Fig“ ist ganz offensichtlich aus der Wut des Moments heraus entstanden, aber deswegen keineswegs ein rein agitatorischer Film, der nicht auch ohne das Wissen über die Zustände im Iran funktionieren, wirken und berühren würde. Zwar erzählt Rasoulof explizit von einer Familie im Iran, aber vor allem implizit auch davon, wie ein autokratisches Regime Misstrauen schürt und die Bande, die eine Gesellschaft normalerweise zusammenhält, zunehmend zerstört. Komplexe Figuren sind sie alle, Vater, Mutter und die beiden Töchter, aber am meisten die Mutter. 20 Jahre ist sie bereits mit Iman verheiratet und ahnt, dass er auch moralisch höchst fragwürdige Dinge tut, die nur mit allergrößten rhetorischen Volten mit den Prinzipien des Korans in Einklang zu bringen sind.
Doch sie hält ihm dennoch die Treue, übernimmt Imans Argumentation, seine Verteidigungsstrategien. Wenn im Fernsehen gesagt wird, dass die Demonstranten Revoluzzer seien, die das Regime stürzen wollen und deswegen eine Bestrafung verdienen, dann glaubt Najmeh das aufs Wort. Ganz anders die Töchter, die mit sozialen Medien aufgewachsen sind und gelernt haben, den staatlichen und offiziellen Nachrichtenkanälen zu misstrauen. Vor allem aber glauben sie auch ihren eigenen Augen, vertrauen auf ihr eigenes Gewissen.
Ziemlich genau in der Mitte des über zweieinhalb Stunden langen Film steht eine Szene, die den Konflikt der Generationen auf den Punkt bringt: Beim Abendessen sitzt die Familie zusammen, Iman verteidigt sich und seine Haltung mit den altbekannten Phrasen, die von den Töchtern zunehmend offensiv hinterfragt werden. „Glaubt ihr nicht, dass ich es besser weiß?“, fragt der Vater, seine scheinbar natürliche Autorität betonend. „Nein, du weißt es nicht besser, weil du die Dinge von innen siehst“, hält ihm Rezvan entgegen. Was diesen Moment so prägnant, aber auch tragisch macht, ist seine Komplexität: Iman wird nicht einfach als rückständiger Mann gezeichnet, sondern ist in gewisser Weise ebenfalls ein Opfer des Systems. Nach Jahrzehnten im Justizapparat kann er aber längst nicht mehr anders, als denken wie der Staat, auch wenn es seinen einstmaligen Prinzipien womöglich widerspricht.
Gerade im letzten Drittel des Films, wenn die Familie in eine nur noch aus Ruinen bestehende Ortschaft flieht, die symbolisch dafür steht, was im Iran in den letzten Jahrzehnten alles zerstört wurde, entwickelt sich „The Seed Of The Sacred Fig“ zunehmend zu einem Paranoia-Thriller. Das Misstrauen, das der Staat durch seine Repressionen und sein Überwachungssystem gesät hat, lässt Iman zunehmend auch seinen Töchtern und seiner Frau misstrauen, macht ihn im Rahmen der Familie zu einem Despoten. Es ist fraglos kein Zufall, dass es am Ende die Frauen sind, die zusammenhalten, die sich gegen den Unterdrücker wehren. Und wenn dann schließlich unausweichlich die Pistole zum Einsatz kommt, dann mag das auf den ersten Blick wie eine Rettung erscheinen, ist in Wirklichkeit aber eine Niederlage für alle Beteiligten, vor allem für die Menschen im Iran.
Fazit: Ein hochaktueller, aber doch zeitloser, immens kraftvoller und intensiver Film, bei dem man vor Spannung immer wieder in seinem Kinosessel nach vorne rutscht: Mohammad Rasoulof nimmt in „The Seed Of The Sacred Fig“ ganz unmittelbar Bezug auf die Proteste, die im Herbst 2022 nach dem Tod von Mahsa Amini Hunderttausende Iraner*innen auf die Straßen trieben. Sie sind Ausgangspunkt für die tragische Zersetzung einer Familie, die durch die vom Staat gesäte Kultur von Misstrauen und Paranoia zerstört wird.
Wir haben „The Seed Of The Sacred Fig“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.