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    Universal Language
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Universal Language

    Ein Arthouse-Crowd-Pleaser, der zusammenschweißt

    Von Patrick Fey

    Nur wenige Filme, die im Rahmen des Cannes-Film-Festivals 2024 ihre Premiere feierten, wiesen ein solches Crowd-Pleasing-Potenzial auf wie Matthew Rankins „Universal Language“. Vielleicht auch, weil der gebürtige Winnipegger mit den Zutaten seines kinematografischen Rezeptes nicht allzu weit hinterm Berg hält: hier eine Prise der kanadischen Selbstzerfleischung wie in den Filmen von Guy Maddin („The Forbidden Room“), dort ein Schuss der Quirkiness von Wes Anderson („Moonlight Kingdom“) – abgerundet mit der entwaffnenden Aufrichtigkeit der iranischen Großmeister Jafar Panahi („Taxi Teheran“) und Abbas Kiarostami („Close-Up“). Für gewöhnlich dürfte sich die Schnittmenge zwischen diesen Autorenfilmern auch nach reiflicher Überlegung ziemlich schnell erschöpfen. Gleichwohl, in dieser „autobiografischen Halluzination“, wie Rankin seinen zweiten Spielfilm nach seinem noch weitaus verqueren Debüt „The Twentieth Century“ bezeichnet, finden diese Elemente auf ausgesprochen einnehmende Weise zusammen.

    Inspiriert ist die episodisch angelegte Komödie von vielerlei Aspekten aus dem Leben des Regisseurs, weshalb es auch nicht überrascht, dass Rankin unter seinem eigenen Namen selbst als Protagonist auftritt. Dieser fiktionalisierte Matthew hat soeben seinen Job als Regierungsbeamter in Montreal quittiert und beschließt nach Jahren des ausgebliebenen Kontakts, seine Mutter im heimischen Winnipeg aufzusuchen. Nur im Entferntesten entspricht dieses Rankin’sche Winnipeg allerdings dem realen Vorbild der Hauptstadt der kanadischen Provinz Manitoba. Stattdessen wird uns Winnipeg – „im Namen der Freundschaft“, wie es in der eingangs eingeblendeten Textwidmung zu lesen ist – als iranische Diaspora vorgestellt, in der die Menschen ganz selbstverständlich Farsi sprechen.

    Fantastisch aussehende Bilder

    So zu sehen bereits in der Eingangsszene, die, wie der Rest des Filmes, in ausnehmend schönen 16mm-Bildern daherkommt. Gefilmt ist sie zunächst in einer Totalen, in der wir über den verschneiten Schulhof einer französischsprachigen Highschool hinweg durch das kleine Fenster eines Klassenzimmers spähen. Mit den Ohren befinden wir uns indes inmitten des bekannten Tohuwabohu, das zwangsläufig ausbricht, wenn der Lehrer auch nach Stundenbeginn noch auf sich warten lässt. Als dieser schließlich eintritt – empört darüber, dass die Klasse, wenn sie schon in solche Ekstase verfalle, dies nicht auf Französisch tue – teilt er seinen jungen Schüler*innen ganz unverblümt mit, dass die Zukunft alles andere als rosige Perspektiven für sie bereithalte.

    Auf seine Frage, welchem Beruf sie denn später nachgehen wollen, erhält er einen bunten Blumenstrauß an Antworten, in denen sich verschiedene Aspekte aus Rankins Biographie spiegeln. Voller Stolz verkündet etwa ein Schüler, der sich im Stile seines Idols Groucho Marx – dem wohl bekanntesten Mitglied der Marx Brothers — einen falschen Oberlippenbart angeklebt hat, dass er Komiker werden wolle. Dem Pressematerial zum Film ist ein Kindheitsfoto Matthew Rankins beigefügt, dem diese Figur ganz offensichtlich nachempfunden ist.

    Massoud führt unbeirrt die Tourist*innen durch die Stadt – selbst wenn es kaum Orte gibt, die klassischerweise als Sehenswürdigkeiten gelten würden. Rapid Eye Movies
    Massoud führt unbeirrt die Tourist*innen durch die Stadt – selbst wenn es kaum Orte gibt, die klassischerweise als Sehenswürdigkeiten gelten würden.

    Eine andere Schülerin, die nach dem Verlust ihrer Brille Probleme hat, die Handschrift ihres Lehrers zu entziffern, wird von diesem grob angeherrscht, als er ihrer scheinbaren Ausrede – ein Truthahn habe ihr die Augengläser entwendet – keinen Glauben schenkt. Für zwei ihrer Mitschülerinnen stellt dies, durchaus im Sinne eines Quest-orientierten Adventure-Games, den Beginn einer Mission da: ihrer Klassenkameradin zu einer Brille zu verhelfen. Da kommt der 500-Rial-Geldschein, den beide kurz darauf in einer zugefrorenen Pfütze erspähen, gerade Recht. Doch wie ist dem Eis beizukommen?

    Wer bei dieser Prämisse hellhörig wird, der denkt in diesem Moment sicher an Jafar Panahis „Der weiße Ballon“, in dem ein Mädchen nach einer Möglichkeit sucht, eine Banknote aus den Fängen der eisernen Gitterstäbe eines Gullydeckels zu befreien. Und dann ist da Abbas Kiarostamis längst ikonisch gewordener Film „Wo ist das Haus meines Freundes?“, die Odyssee eines Jungen, der alles daransetzt, seinem Klassenkameraden aus dem Nachbardorf sein Schulheft zu bringen, um ihm den Tadel des Lehrers wegen nicht gemachter Hausaufgaben zu ersparen. Doch auch diese Episode in „Universal Language“ ist biografisch inspiriert und spiegelt ebenfalls eine Geschichte, die sich im Leben von Rankins Großmutter während der Weltwirtschaftskrise zugetragen hat. Weitaus ergiebiger jedoch, als nun jedes der bizarren Vorkommnisse in „Universal Language“ auf seinen realen Ursprung abzuklopfen, verspricht ein Blick auf die filmische Welt, die Rankin hier entwirft.

    Seit 30 Jahren liegt ein Koffer an der Haltestelle

    Teil dieser sind die mannigfaltigen überlieferten Geschichten und Legenden, wie sie uns insbesondere durch Massoud nähergebracht werden. Der Stadtführer begegnet uns wiederholt an mehr oder weniger scheinbar unscheinbaren Orten des Rankin’schen Winnipegs. In einer dieser Szenen etwa führt Massoud seine mäßig interessierten Tourist*innen zu einer verschneiten Bushaltestelle, auf deren Bank vor mehreren Jahrzehnten ein Koffer zurückgelassen wurde. Während all der Jahre, erklärt Massoud, sei dieser von den Winnipeggern unangetastet geblieben, immer in der Hoffnung, der Eigentümer möge eines Tages zurückkehren. In einer späteren Szene erzählt Massoud von einem Kino, das einst für seine 3D-Filme bekannt gewesen sei, die für das Publikum allerdings zu aufregend gewesen seien. Seither zeige das Kino nur noch „eindimensionale Filme“.

    Nachdem es zunächst so scheint, als dienten diese ebenso witzigen wie seltsam anrührenden Szenen einzig dazu, uns mit der von unbekümmert umherspazierenden Truthähnen bevölkerten Welt vertraut zu machen, so stellen sie sich in der Rückschau als Andeutungen auf eine unverhoffte Verbindung zwischen Matthew und Massoud heraus. Gleichsam handelt es sich um eine Gegenüberstellung: Hier Matthew, der in seiner langen Abwesenheit in Montreal den Bezug zu seiner Heimatstadt verloren hat, dort Massoud, der Winnipeg zu der seinen gemacht hat.

    Gewissermaßen führen Rankin und seine guten Freunde und Co-Autor*innen Pirouz Nemati und Ila Firouzabadi dadurch die vielerorts emotional geführten Diskussionen um kulturelle Aneignung ad absurdum. Ein Hinweis darauf befindet sich schließlich bereits im Filmtitel, der nahelegt, dass es in „Universal Language“ nicht die Differenzen, sondern die Gemeinsamkeiten zwischen den Figuren sind, auf die es ankommt.

    Fazit: Mit seinem autobiografisch inspirierten Zweitfilm „Universal Language“ verwebt Matthew Rankin den kanadischen Humor Guy Maddins mit dem poetischen Realismus des iranischen Kinos zu einer der originellsten Komödien des Kinojahres.

    Wir haben „Universal Language“ im Rahmen des Cannes Filmfestival 2024 gesehen.

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