+++ Meinung +++
Das Marvel Cinematic Universe hat bald 15 Jahre auf dem Buckel. Und auch nach fast 30 Filmen und immer mehr Serien habe ich mich an dem beispiellosen Comic-Mammut-Projekt nach wie vor nicht sattgesehen. Gelegentliche Ermüdungs- und Abnutzungserscheinungen kann aber auch ich als riesiger MCU-Fan natürlich nicht verleugnen. Umso erfreuter bin ich, wenn sich die Comic-Schmiede und ihr Mutterkonzern Disney dann doch mal ein wenig von der bewährten Marvel-Formel entfernen und in der gut geölten Superhelden-Maschinerie ein paar gewagtere Zahnräder verbauen.
Das trifft für mich auch auf weite Teile von „Doctor Strange In The Multiverse Of Madness“ zu. Natürlich ist das 28. MCU-Abenteuer kein reinrassiger Horrorfilm, wie es im Vorfeld gerne mal angeteast wurde. „Tanz der Teufel“-Mastermind und „Spider-Man“-Regisseur Sam Raimi bringt aber in der Tat so manche Stärke seiner Genre-Wurzeln mit ein und lässt „Doctor Strange 2“ so aus der Marvel-Masse herausstechen. Ein Höhepunkt ist hier zweifellos auch die umstrittene Illuminati-Szene in der Mitte des Films, die mich auf eine wahre Stimmungsachterbahnfahrt mitgenommen hat...
Gaststar-Parade als Fanservice ...
Was war die Euphorie groß, als einer der Trailer zu „Doctor Strange 2“ mehr als deutlich angedeutet hat, dass wir uns im Film auf ein Wiedersehen mit Patrick Stewart als Professor Charles Xavier freuen können, der hier nicht (nur) X-Men-Anführer, sondern (auch) Kopf der Illuminati-Superheldentruppe ist. Damit schienen die Möglichkeiten für ebenso prominente wie überraschende Gastauftritte im Multiversum des Wahnsinns tatsächlich schier endlos. Entsprechende Fantheorien zu mutmaßlichen Cameos von Deadpool, Tom Cruise als Superior Iron Man und vielen weiteren Figuren überschlugen sich.
Vom Endergebnis auf der Leinwand zeigten sich einige Zuschauer*innen dann aber enttäuscht. Nicht nur beschränkt sich die von vielen erhoffte Cameo-Parade (die zudem ohne Ryan Reynolds und Tom Cruise auskommt) größtenteils auf die eine Sequenz im Illuminati-Hauptquartier eines Parallel-Universums, auch wird mit den hier auftretenden Held*innen direkt erstaunlich kurzer Prozess gemacht.
Das hat dazu geführt, dass die Szene vielerorts (sogar in der sonst positiven FILMSTARTS-Kritik) als überflüssiger Fanservice abgetan wurde, der das Geschehen in „Doctor Strange In The Multiverse Of Madness“ eher ausbremst, als dass er ihm zuträglich ist. Dem widerspreche ich ganz klar, doch dazu später mehr. Erst einmal bleibt festzuhalten: Ja, der Abstecher zu den Illuminati funktioniert zuallererst in der Tat als netter Fanservice.
Das Comeback von Professor X, das Live-Action-Debüt von Captain Carter (Hayley Atwell) und der MCU-Einstand von Fantastic-Four-Oberhaupt Reed Richards (inklusive großem Fanwunsch-Casting John Krasinski) sorgten auch in meiner „Doctor Strange 2“-Vorstellung für Szenenapplaus (persönlich habe ich mich außerdem noch sehr darüber gefreut, dass Charmebolzen und „Star Trek: Strange New Worlds“-Captain Anson Mount nach dem „Inhumans“-Reinfall noch mal die Gelegenheit bekommen hat, in einem guten Marvel-Titel Black Bolt zu spielen).
Darüber hinaus ist das Ganze für mich aber noch so viel mehr...
... und Abgesang auf Cameo-Wahn zugleich
Auch wenn sich viele Fans davon vor den Kopf gestoßen fühlen, ist der geniale Kniff an der Illuminati-Szene in der Tat ihr brutaler Ausgang, der die eigentliche Überraschung darstellt und es somit im Nachhinein gar nicht so schlimm erscheinen lässt, dass zumindest das Professor-X-Gastspiel bereits vorher enthüllt wurde. Sam Raimi gelingt hier nämlich das Kunststück, den angesprochenen Fanservice zunächst durchaus zu zelebrieren – nur um dem Publikum dann den Boden unter den Füßen wegzureißen und das zu starke Anbiedern an die Fanschar mit einem Seitenhieb gegen den (von Marvel selbst mit entfachten) Cameo-Wahn ein Stück weit zu dekonstruieren.
Im immer weiter verzweigten MCU scheint es inzwischen bisweilen gar so, dass der eine oder die andere nur noch auf derartige Gastauftritte hinfiebert und folglich enttäuscht ist, wenn nicht wenigstens einmal Ant-Man auf einer Ameise durchs Bild reitet oder Hawkeye mit seinen Pfeilen Dart spielt. Auch ein Marvel-Film sollte aber ganz unabhängig von solchen Einschüben funktionieren. Und das zeigt „Doctor Strange In The Multiverse Of Madness“ zum Glück in der restlichen Laufzeit.
Und trotz (oder gerade) wegen dieser Lesart ist die besagte Sequenz für mich alles andere als überflüssig, sondern in ihrer faszinierenden Ambivalenz ein smarter und unerwarteter Move, der jegliche Frustration über das schnelle Ableben beliebter Gast-Stars mehr als wettmacht. Ganz davon zu schweigen, dass sie auch innerhalb der Handlung einen nicht zu unterschätzenden Zweck erfüllt...
"Doctor Strange 2" wird zum Slasher
Die Story an sich mag im Kreise der Illuminati etwas auf der Stelle treten, für die weitere Figurenzeichnung ist die Szene aber essenziell. So demonstriert sie eindrucksvoll, wozu Wanda (Elizabeth Olsen) fähig und bereit ist, um ihre (imaginären) Kinder zurückzuholen. Selbstverständlich wissen wir schon vorher (nicht zuletzt durch den Angriff auf die Zaubererfestung Kamar-Taj), wie mächtig und unbarmherzig die unter dem Einfluss des Darkhold stehende Scarlet Witch ist. Doch erst in der Konfrontation mit den Illuminati wird sie so richtig von der Leine gelassen und als absolut furchteinflößende Killerin präsentiert, die in ihrer Skrupellosigkeit selbst Thanos locker in den Schatten stellt und vor der nichts und niemand sicher ist.
Wenn Sam Raimi Wanda in einer für das MCU ungewohnten Brutalität nacheinander alle Illuminati fast schon in Slasher-Manier beseitigen lässt, lotet er die Grenzen der Altersfreigabe bis zum Maximum aus und erschafft damit endgültig die bis dato bedrohlichste Bösewichtin des MCU. Und der Schock ist hier umso größer, da auf der anfänglichen Freude über die Cameos durchaus perfide aufgebaut wird. Der Fanservice erfolgt längst nicht um des bloßen Fanservice-Willen, sondern wird somit im Gegenteil sogar sehr effektiv für das weitere Geschehen eingesetzt.
Erhöht wird diese Wirkung dann auch gerade dadurch, dass sich Wanda eben keine gänzlich unbekannten Held*innen in den Weg stellen, sondern zumindest mehr oder weniger etablierte und zum Teil sehnlichst herbeigesehnte Avengers-Pendants, die sich angesichts ihrer enormen Kräfte vor dem Kampf zudem noch äußerst siegessicher zeigen.
Zugegeben: Ganz konsequent geht Marvel hier nicht zu Werke, da es sich nicht um Fanlieblinge aus der Hauptwelt des MCU, sondern „nur“ um Figuren aus einer Paralleldimension handelt. Geschmälert hat das den niederschmetternden Effekt der Szene für mich jedoch nicht. Erst recht nicht, wenn man – wie ich – zu denjenigen gehört, die selbst bei Nebenfiguren gerne noch weiter über ihre Schicksale nachdenken und so mit dem bedrückenden Gefühl entlassen werden, dass Sue Storm und die gemeinsamen Kinder nun ohne Mr. Fantastic und die X-Men (mal wieder) ohne ihren weisen Anführer auskommen müssen.
Nach "Doctor Strange 2": Werden die Illuminati noch einmal richtig wichtig?