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    Weniger Sex, weniger Härte: Regisseur enthüllt, wie sehr sein starbesetzter Netflix-Thriller verstümmelt wurde
    Björn Becher
    Björn Becher
    -Mitglied der Chefredaktion
    Fan von Hochspannungskino, Thriller dabei lieber als Horror und eine besonders große Liebe für Klassiker von Hitchcock und das Kino der 70er & 80er - vor allem aus Europa.

    „The Woman In The Window“ gehört zu jenen Filmen, die immer wieder verschoben wurden und dann statt im Kino bei einem Streamingdienst landeten. Was dann bei Netflix erschien, hat aber wohl nichts mehr mit der Vision von Regisseur Joe Wright zu tun.

    Netflix

    Nach vielen Verschiebungen erschien „The Woman In The Window“ im Mai 2021 bei Streamingdienst Netflix. Der Psycho-Thriller um eine zu viel Alkohol und zu viele Tabletten konsumierende Frau, die überzeugt ist, einen Mord in der Nachbarswohnung beobachtet zu haben, fiel aber beim Gros des Publikums und der Kritik durch. Auch bei uns bekam der mit u. a. Amy Adams, Gary Oldman, Julianne Moore, Jennifer Jason Leigh sowie den „The Falcon And The Winter Soldier“-Stars Anthony Mackie und Wyatt Russell hochkarätig besetzte Film von „Abbitte“-Regisseur Joe Wright nur 2 Sterne.

    Der Filmemacher, dessen neuestes Werk „Cyrano“ aktuell in den Kinos läuft, sprach nun mit Vulture sehr offen über seinen Film und verriet dabei, dass die auf Netflix veröffentlichte Version von „The Woman In The Window“ rein gar nichts mehr mit jenem Film zu tun hat, den er ursprünglich gedreht hatte. Denn sowohl in inhaltlicher wie auch in ästhetischer Hinsicht sei der Thriller durch Nachdrehs und Nachbearbeitung sehr stark verändert worden.

    "The Woman In The Window": Inhaltlich verwässert

    Eine zu düstere Hauptfigur: Auch wenn die von Amy Adams gespielte Anna auch in der jetzigen Netflix-Version Alkohol konsumiert und Pillen schluckt, ging das in Wrights ursprünglicher Version wohl noch viel weiter. Sie sei „viel chaotischer und auf viele Arten verabscheuungswürdig“ gewesen. Doch während es kein Problem sei, einen Mann so in einem Film zu zeigen, stoße man mit einer weiblichen Hauptfigur da direkt auf Widerstand: „Das Publikum will, dass Frauen nett in ihrem Film sind. Sie wollen nicht sehen, wie sie chaotisch und hässlich und düster und betrunken werden und Pillen nehmen.“

    Weniger Sex: Zudem musste Wirght auch Szenen komplett entfernen. Als Beispiel nennt er eine „großartige Szene, in welcher sie [Amy Adams' Anna] Sex mit dem Typen von unten [Wyatt Russells David] hat“. Allein dadurch seien seine Version und der finale Film sehr unterschiedlich. Doch die Änderungen gehen noch weit über diese inhaltlichen Eingriffe hinaus:

    "The Woman In The Window": Ästhetisch entradikalisiert

    Keine brutalen Schnitte: Joe Wright bezeichnet seine ursprüngliche Vision nämlich auch als „formales Experiment über fucking Angstzustände“. Als Vorbild diente ihm dabei Gapar Noés radikal-intensiver Rachefilm „Menschenfeind“, der einen „wie ein komplettes, nervöses Wrack zurücklässt“. Etwas von diesem Stil wollte er auf „The Woman In The Window“ übertragen, mit „wirklich verdammt harten Schnitten“ (O-Ton: „really fucking hard cuts“). Das Ergebnis sei „brutal“ gewesen, doch seine Bosse haben es nicht gemocht.

    Zu aggressive Musik: Die Radikalität bei den Schnitten habe sich in der Musik fortgesetzt. Oscarpreisträger Trent Reznor, der unter anderem David Finchers „The Social Network“, „Verblendung“ und „Gone Girl“ eindrucksvoll vertonte, habe „einen unglaublichen Score“ gemacht: Er war „aggressiv und Hard-Core“ … und er flog raus. Statt Reznor und seinem Partner Atticus Ross machte dann Danny Elfman („Spider-Man“) die finale Filmmusik.

    Wer ist schuld? Netflix oder Disney?

    Offen lässt Joe Wright in dem Interview mit Vulture, wer am Ende für all die Änderungen verantwortlich ist. Bekanntlich nahm er das Projekt noch für Fox in Angriff und drehte es bereits 2018. Das Studio wurde dann aber von Disney übernommen, die nach Testvorführungen wenig glücklich waren. Der ursprüngliche Kinostarttermin wurde verschoben. Es gab Nachdrehs und Überarbeitungen inklusive eines kompletten Neuschnitts. Nachdem der Kinostart wegen Corona erneut verschoben werden musste, gab Disney das Projekt an Netflix ab.

    Auch wenn Wright es nicht explizit sagt, gehen wir davon aus, dass Netflix dann schon nur noch die am Ende auch veröffentlichte Version bekommen hat. Die ganze „Verwässerung“, wie es Wright im Interview immer nennt, fand wohl schon vorher statt, als Disney noch an einen Kinostart dachte und eben die genannten Nachdrehs und Überarbeitungen in Auftrag gab.

    Dass es jemals einen Director's Cut, also seine Version, zu sehen gibt, bezweifelt er übrigens. Es würde eine Menge Geld kosten, denn man müsste alles wieder neu schneiden, wieder die alte Farbkorrektur herstellen und alles auch wieder abmischen. Lust darauf hätte er zwar, mache sich aber keine Illusionen. Zumal er eingestehen müsse, dass natürlich auch seine Version durchfallen könnte: „Vielleicht war es auch ein Film, der einfach nicht funktionierte, und das ist auch okay. Wir haben als Künstler das Recht zu scheitern.“

    The Woman In The Window“ läuft auf Netflix, Joe Wrights neuer und seiner Vorstellung entsprechender Film „Cyrano“ im Kino.

     

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