Netflix hat in den vergangenen Jahren eine regelrechte Superhelden-Offensive begonnen. Das Spektrum der angebotenen Filme und Serien reicht mittlerweile von der Komödie („Thunder Force“) bis hin zur skurrilen Außenseiter-Geschichte („Umbrella Academy“). Was im Netflix-Superhelden-Portfolio bislang aber noch fehlte: Ein eher kritischer Blick auf das Heldenleben in der Tradition von „Watchmen“, zumal Konkurrent Amazon hier mit „The Boys“ und „Invincible“ schon zwei starke und erfolgreiche Serien im Programm hat.
Mit „Jupiter's Legacy“ schickt sich Netflix nun aber an, auch diese Lücke zu schließen. Und qualitativ kann die neue Superhelden-Serie nach einer Comic-Vorlage von Mark Millar („Kick-Ass“, „Kingsman“) auch wirklich an die oben genannten Vorgänger anknüpfen. Wer aber nun ein zweites „The Boys“ erwartet, dürfte enttäuscht werden: „Jupiter's Legacy“ ist über weite Strecken ein sorgfältig erzähltes Superhelden-Drama über die Last der Verantwortung und den Kampf der (Helden-)Generationen, gemischt mit einer Prise Abenteuer-Story und wenigen, wuchtig inszenierten Actionszenen und Gewaltspitzen.
Sheldon Sampson alias The Utopian (Josh Duhamel), Grace Sampson alias Lady Liberty (Leslie Bibb) und die übrigen Mitglieder der Union Of Justice beschützen die Erde bereits seit 90 Jahren vor allerlei Gefahren. Doch so einfach wie noch vor einigen Jahren ist der Kampf für die gute Sache nicht mehr:
Mittlerweile ist eine neue Generation von Helden und Heldinnen herangewachsen und der Konflikt zwischen Gut und Böse eskaliert zunehmend, wobei die Union aufgrund ihres strengen Kodex, der das Töten verbietet, immer mehr in Bedrängnis gerät. Wie schwierig es ist, ein Held oder eine Heldin zu sein, merken auch Brandon (Andrew Horton) und Chloe Sampson (Elena Kampouris), die Kinder von Sheldon und Grace. Beide verfügen ebenfalls über Superkräfte, haben aber auf ihre Art mit dem schweren Erbe als Nachfahren der berühmtesten Helden der Erde zu kämpfen.
Parallel dazu erleben wir im Jahr 1929, wie Sheldon nach der Wirtschaftskrise in den USA und einem damit verbundenen traumatischen Erlebnis scheinbar dem Wahnsinn verfällt und von Visionen geplagt wird, die ihn, seinen Bruder Walt (Ben Daniels) und einige andere offenbar zu einem bestimmten Ort führen wollen...
Vergangenheit und Gegenwart
Die vielleicht größte Überraschung an „Jupiter's Legacy“: Bei dem im Jahr 1929 angesiedelten Teil der Geschichte handelt es sich nicht etwa um eine kurze Rückblende, sondern tatsächlich um einen eigenen Handlungsstrang, der sich von der ersten bis zur letzten Episode zieht – eine durchaus gewagte Entscheidung der Serien-Verantwortlichen um Steven S. DeKnight („Marvel's Daredevil“). Schließlich besteht dabei die Gefahr, dass durch das Springen zwischen den beiden parallelen Handlungssträngen die Übersicht und das Momentum verloren gehen.
Doch DeKnight und Co. verknüpfen beide Handlungsebenen effektiv und geschickt miteinander: Wenn etwa in der Gegenwart Grace im Mittelpunkt einer Folge steht, dann wird parallel dazu auch in der Vergangenheit ihre Geschichte genauer beleuchtet. Und wenn es im Verlauf der Handlung zu einer Beerdigung kommt, denkt Sheldon dabei unweigerlich an eine andere Beerdigung im Jahr 1929 zurück, wobei der Effekt dadurch ein wenig verpufft, dass man keine der toten Figuren vorher wirklich kennengelernt hat und die Tragik der Situation eher behauptet wird.
Kampf der Generationen
Im Verlauf der acht Folgen von „Jupiter's Legacy“ kristallisiert sich durch die zwei Handlungsebenen so ein klares Psychogramm der zentralen Heldenfiguren heraus: Einerseits erfahren wir in der Vergangenheit, warum Sheldon, Grace und die alte Garde so einem strengen Codex folgen, andererseits arbeiten DeKnight und Co. geschickt heraus, wie hart es sein muss, als Sohn oder Tochter des Utopian aufzuwachsen.
Der sieht in seinen (mittlerweile erwachsenen) Kindern nämlich nicht etwa seine Kinder, sondern nur die nächste Generation von Helden, die es vorzubereiten und auszubilden gilt. Und ebenso ist es auch mit den anderen neuen Mitgliedern der Union, was sich auch an kleinen Details zeigt, etwa daran, dass Sheldon nur die Heldennamen, nicht aber die bürgerlichen Namen seiner Mitstreiter*innen kennt.
Wie weit dürfen Superhelden gehen?
Neben dem zentralen Thema des Generationenkonflikts wagen sich die Serien-Macher*innen auch an das schwierige Thema der Verantwortung für die eigenen Taten und an die Frage, wie viel die Union in den Lauf der Welt eingreifen soll und darf.
In einer prägnanten Szene unterhalten sich Sheldon und sein Bruder Walt etwa darüber, ob sie beim Zweiten Weltkrieg mehr hätten tun sollen. Schließlich hätten sie mit ihren gewaltigen Superkräften den Krieg und den Holocaust problemlos verhindern und Millionen Leben retten können, so Walt. Doch wo endet dann die Einflussnahme von Superhelden und bis zu welchem Punkt darf man den anderen Menschen ihr Leben vorschreiben, hält ihm Sheldon entgegen – eine knifflige Frage, die auch in „Jupiter's Legacy“ nicht abschließend beantwortet, aber immer wieder aufgegriffen wird.
Direkt in der ersten Folge wird zudem in einer der wenigen, langen Actionszenen in ärgster Bedrängnis ein Superschurke getötet, was natürlich trotzdem dem eingangs erwähnten Kodex der Union widerspricht.
Das ist nicht nur der Ausgangspunkt für die Gegenwartshandlung der ersten Staffel und hat große Auswirkungen auf die Welt, in der „Jupiter's Legacy“ angesiedelt ist, da es den Kampf zwischen Gut und Böse weiter eskalieren lässt. Vor allem wird der Tod des Bösewichts auch zu einem Katalysator für die Entwicklung verschiedener Figuren – während Sheldon auf seinem Standpunkt beharrt, geraten andere ins Grübeln, ob heute noch dieselben Regeln gelten können wie vor 90 Jahren.
Starker Cast, starke Effekte
Getragen werden diese – vor allem im Mittelteil der ersten Staffel sehr prominenten Drama-Szenen – von einem starken Cast, aus dem Ben Daniels („The Crown“) als Walter Sampson alias Brainwave und Matt Lanter („Pitch Perfect 3“) als George Hutchence alias Skyfox noch einmal besonders herausragen, der eine als Sheldons älterer, pflichtbewusster Bruder, der andere als sein bester Freund, der später zum größten Widersacher der Union wird.
Unbedingt hervorheben muss man in diesem Zusammenhang auch die größtenteils wirklich gelungenen Alterungs-Make-Up-Effekte, denn Josh Duhamel, Leslie Bibb, Ben Daniels und Co. spielen ihre Figuren sowohl im Jahr 1929 als auch in der Gegenwart. Aufgrund ihrer Kräfte sind ihre Figuren in den 90 Jahren dazwischen zwar nicht so stark gealtert wie Normalsterbliche, sie sind aber trotzdem deutlich älter – und das sieht durchaus überzeugend aus (was übrigens auch für die Kostüme und die mit Computereffekten realisierten Kräfte der verschiedenen Held*innen gilt).
Zu weit vorausgedacht
Einen in den oberen Absätzen bereits angeklungenen Kritikpunkt wollen wir an dieser Stelle aber auch nicht verschweigen: „Jupiter's Legacy“ schneidet viele Themen nur an, führt die Entwicklung der Figuren nicht immer zu Ende (oder wenigstens zu einer Art Zäsur) und endet nach acht Folgen mit einem ordentlichen Twist, der aber nicht wirklich überzeugend auserzählt wird.
Daher fühlt sich die erste Staffel eher wie der Auftakt der Geschichte als wie eine abgeschlossene Season an. Ob die Serien-Verantwortlichen das durchaus vorhandene Potenzial der Serie einlösen und dabei auch die zentralen Themen sinnvoll weitererzählen können, werden erst weitere Staffeln zeigen – immer vorausgesetzt, die Serie wird ein Erfolg für Netflix. Besser wäre es auf jeden Fall gewesen, schon die erste Staffel zu einem runderen Ende zu bringen.
Fazit: „Jupiter's Legacy“ auf Netflix ergänzt den Chor der Superhelden-Abgesänge um eine interessante Stimme. Anders als bei „Watchmen“ oder „The Boys“ steht hier vor allem der Konflikt zwischen den Generationen im Mittelpunkt, der von starken Darsteller*innen vorgetragen wird.