„1917“ wird als sogenannter One-Shot-Film bezeichnet, weil es wirkt, als wäre er in einer Einstellung gedreht worden. Das stimmt natürlich nicht (wie der Film entstand, haben wir bereits in einem anderen Artikel erklärt) und zudem gibt es im zweiten Drittel des Films einen sehr deutlichen Bruch. Denn als Hauptfigur Schofield (George MacKay) von einer Kugel am Helm getroffen und nach hinten geschleudert wird und anschließend die Treppen herunterpurzelt, wird der Bildschirm schwarz und es gibt einen deutlichen Zeitsprung.
Ab da bekommt „1917“ auch einen anderen Look. Als der sichtlich verwirrte Schofield danach ins Freie tritt, hat sich dies nicht nur wegen des Einbruchs der Dunkelheit komplett verändert. Feuer verwüsten das Dorf Ecoust, Leuchtflacken erhellen die Nacht. Die Umwelt, die Kulisse scheint sich zu bewegen, Schatten lebendig zu sein. Es wirkt wie ein Abstieg in die Hölle oder wie eine Vision.
Ist alles nur ein Traum? Ist Schofield noch bewusstlos? Oder vielleicht sogar tot? Diese Frage sollen auch wir Zuschauer uns in diesem Moment für kurze Zeit stellen, wie aus dem uns vorliegenden Drehbuch von „1917“ klar wird. Dort heißt es in dieser Szene unter anderem sogar über Schofield selbst (Übersetzung durch uns): „Es ist ihm nicht klar, ob er wach ist oder träumt.“
Bewusst keine Logik
Nur Sekunden später wird Schofield klar, wie wach er ist. Ein erster Schuss wird auf ihn abgefeuert. Und er beginnt, zu rennen. Was er in seinen wenigen Wochen Ausbildung gelernt hat, zählt nicht mehr. Schofield rennt einfach nur noch, lässt Teile seine Ausrüstung zurück.
Und auch wenn er kurze Zeit später dank der Begegnung mit einer jungen französischen Frau und einem Baby nochmal innehalten wird, setzt dieser Lauf den Ton für das große Finale. Denn hier werden wir Schofield viel rennen sehen.
Als der junge Soldat die Frontlinie erreicht und dort feststellt, dass er doch nicht komplett zu spät ist, dass der Sturm auf die deutschen Linien zwar begonnen hat, er aber noch verhindern kann, dass viele Soldaten ihren Kameraden in den sicheren Tod folgen, muss er wieder rennen – und zwar mitten durchs Schlachtfeld, über die offene grüne Wiese. Entgegen jeglicher Logik muss er sein Leben riskieren.
Genau das wollte Regisseur Sam Mendes hier zeigen, wie er uns im Gespräch über das Ende verriet: „Es ist mehr ein instinktiver Akt. Er hat fast keine Kontrolle mehr über das, was er tut, was er für seinen Freund quasi tun muss. Wenn man es sich genau anschaut, dann entbehrt es sogar jeglicher Logik. Es ist nicht mehr rational gedacht.“
Schofield als verrücktes Tier
Entsprechend inszeniert Sam Mendes auch den jungen Soldaten, den er auch quasi „nackt“ für diese Szene macht, indem er ihn nach und nach seine ganze Ausrüstung entledigen lässt. Und Schauspieler George MacKay unterstützt das mit seinem Spiel: Er läuft als Schofield nicht einfach, sondern taumelt vorwärts. Oder wie Mendes es im Gespräch mit uns ausdrückt: „Er ist fast schon wie ein Tier, das einfach nur noch vorwärts stolpert.“
Auch im Drehbuch von Mendes und Autorin Krysty Wilson-Cairns wird das herausgestellt: „He looks like a madman“ heißt es da, also: „Er sieht wie ein Verrückter aus.“ Und auch hier wird erklärt, dass Schofield keine rationale Entscheidung trifft, sondern ihn nur sein Instinkt die sichereren Schützengräben verlassen lässt. Es heißt sogar, er ist erst einmal selbst schockiert, dass er nun im offenen Feld steht – im Film von Schauspieler MacKay durch ein kurzes Innehalten, ein (rational gedacht) unnötiges Zögern illustriert.
Kein Heldenakt
Mendes hat sein Ende auch so inszeniert, weil es kein typischer Heldenakt sein soll, was der junge Soldat macht. Er entscheidet sich nicht wirklich dafür, jetzt seine Kameraden zu retten, sondern es überkommt ihn einfach. Er muss einfach loslaufen. Oder wie es Mendes auch im Gespräch mit uns ausdrückte: „Er ist ein stolpernder Idiot.“
Dass Schofield einfach nur ein junger Mann ist, den der Zufall dorthin getrieben hat, verdeutlicht das letzte Bild, das eine Klammer zum Auftakt ist: Schofield sitzt wieder unter einem Baum, lässt sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. Genau das tat er, als er als „Freiwilliger“ für die Mission ausgewählt wurde.
Dass Schofield dabei an Frau und Töchter denkt, gibt „1917“ ein positiv-optimistisches Finale, das dann aber nur kurz nachhallt. Der Krieg wird noch eineinhalb Jahre dauern, ob er auch den nächsten Tag überleben wird, ist ungewiss. Und seine mögliche Handinfektion kreist ohnehin als düsteres Schicksal über ihm…
„1917“ läuft seit dem 16. Januar 2020 in den deutschen Kinos.
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