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    Warum "Chernobyl" die aktuell beste Serie ist

    1986 explodierte in der Sowjetunion ein Atomreaktor im Kernkraftwerk Tschernobyl. In der HBO-Drama-Serie „Chernobyl“ wird die größte menschgemachte Katastrophe der Geschichte geschildert – wir erklären, warum das Serien-Meisterwerk so überragend ist.

    HBO

    +++ Meinung +++

    Zuletzt entbrannte eine erbittert geführte Diskussion darüber, ob „Chernobyl“ wirklich die beste Serie aller Zeiten ist. In der IMDB steht die Katastrophen-Serie aus dem Hause HBO bei einer Durchschnittswertung von sensationellen 9,6 von 10 sogar vor Giganten wie „Breaking Bad“ (9,4) und „Game Of Thrones“ (9,3) als „Top-rated TV-Series“ – bei erstaunlichen 229.000 Stimmen. Aber geschenkt! Diese müßige Debatte wollen wir an dieser Stelle gar nicht führen, denn die beste Serie aller Zeiten ist und bleibt sowieso David Simons legendäre Polizei-Drama-Serie „The Wire“ (2002 bis 2008, 5 Staffeln).

    Doch von den Serien, die in den vergangenen Jahren gestartet sind, sticht „Chernobyl“ schillernd heraus. Dabei reibt man sich bei einem Blick auf die Kreativen verwundert die Augen. Mastermind hinter „Chernobyl“ ist Serienschöpfer Craig Mazin, der sich als Regisseur von „The Specials“ (2000) und „Superhero Movie“ (2008) nicht unbedingt mit Ruhm bekleckerte und dessen Drehbücher zu „Scary Movie 3“, „Scary Movie 4“ und „Hangover 2“ ebenfalls nicht zu den Sternstunden der Schreibkunst zählen. Wir wissen also nicht, wie aus der Feder Mazins nun eine meisterhaft geschriebene Drama-Serie geflossen ist, aber wir freuen uns einfach darüber und zollen dem New Yorker, der akribisch jahrelange Recherche betrieb, höchsten Respekt für sein großartiges Konzept und die brillante Umsetzung.

    Für Serien vergeben wir zwar keine Wertung, wir würden aber tatsächlich die 5 Sterne zücken, weil uns „Chernobyl“ auf jeder Ebene einfach umgehauen hat.

    Darum geht’s in "Chernobyl"

    Der Reaktorunfall von Tschernobyl erschüttert am 26. April 1986 die Welt. Nachdem zwei Tage später in einem schwedischen Kernkraftwerk erhöhte Radioaktivität gemessen wird, kann der sowjetische Staat den verheerenden Atomunfall nicht mehr unter der Decke halten. KPdSU-Generalsekretär Michael Gorbatschow (David Dencik) persönlich setzt Energieminister Boris Scherbina (Stellan Skarsgard) ein, um die Untersuchung des Unglücks zu leiten und alles in Bewegung zu setzen, den Schaden zu begrenzen.

    Mit dem bekannten Kernphysiker Valerij Legasov (Jared Harris) bekommt Scherbina einen aufrechten, aber knorrigen Experten an die Seite gestellt, der ihm die wissenschaftlichen Fakten zur Katastrophe liefert. Das unfreiwillige Gespann reist nach Tschernobyl und lässt nach Begutachtung des Desasters die Bewohner der drei Kilometer entfernten Vorzeigestadt Prypjat komplett evakuieren. Das Ausmaß des Schadens ist noch viel größer als angenommen. Der Reaktorkern droht durchzuschmelzen und damit Trinkwasser für Millionen von Menschen über Jahrhunderte ungenießbar zu machen.

    HBO

    Diese Stelle der Handlung ist ein schöner Anknüpfungspunkt, um die außergewöhnliche Qualität von „Chernobyl“ ganz explizit zu verdeutlichen. Schon in der ersten Folge raubt es einem die Luft, wenn Serien-Regisseur Johan Renck („The Last Panthers“) nüchtern und ohne Effekthascherei inszeniert, wie der Reaktor im Block 4 explodiert und die ersten bemitleidenswerten Arbeiter in die Strahlenhölle geschickt werden. Danach folgt eine emotional wichtige, brillant gespielte Schlüsselszene, in der Legasov und Scherbina das Allerschlimmste abwenden wollen. Dazu muss über mehrere Wochen ein Tunnel unter dem Reaktor gegraben werden, um das Durchschmelzen des Kerns zu verhindern.

    Die Aufgabe können nur spezialisierte Bergleute übernommen. Diese besondere Sorte Mensch führt Mazin mit einem eigenen Handlungsstrang ein, sodass diese kohleverrußten Urgesteine ein Gesicht bekommen. Angeführt von dem ruppigen, aber ehrlichen Vorarbeiter Andrei Glukhov (Alex Ferns), machen sie sich heldenhaft-stoisch an die Arbeit ihres Himmelfahrtskommandos – bei unmenschlichen Temperaturen von bis zu 60 Grad Celsius im Bohrtunnel. Legasov weiß, dass er viele der Männer in den Tod schickt (am Ende sterben rund 100 der 400 Männer an den erlittenen Strahlenschaden vor ihrem 40. Geburtstag). Es nagt schwer an ihm.

    Hier setzt Schöpfer Mazin mit Leichtigkeit eine entscheidende Marke für seine Geschichte. Legasov, obwohl er sich des bedrohlichen Staatsapparats stets bewusst ist, fällt es schwer, zu lügen. Er sitzt mit Scherbina zusammen, bevor sie die Bergarbeiter zu ihrer tödlichen Aufgabe instruieren. Legasov guckt gequält-fragend zu Scherbina...

    Scherbina:Was?

    Legasov:Ich bin nicht gut darin, Boris. (Pause) Im Lügen.

    Scherbina:Hast du jemals Zeit mit Minenarbeitern verbracht?

    Legasov: (schüttelt fragend den Kopf) „Nein.

    Scherbina:Erzähl‘ immer die Wahrheit. Die Männer arbeiten im Dunkeln. Sie sehen alles.

    Eine famos atmosphärische Szene, die den Kern der Charaktere, der Geschichte und vielleicht sogar des ganzen Landes auf den Punkt zementiert. Diese beiden zentralen Figuren funktionieren so grandios, weil sie gegensätzlich sind und sich doch perfekt ergänzen. Legasov denkt die wissenschaftlichen und technischen Prozesse durch, Scherbina organisiert die Umsetzung – diese Konstruktion führt ganz nebenbei dazu, dass in den Dialogen die Technik der Kernenergie auch für Laien verständlich wird. Obwohl Legasov, dessen Selbstmord bereits im Prolog der ersten Folge vorweggenommen wird, der offensichtliche Sympathieträger ist, zeichnet ihn Mazin durchaus mit ambivalenten Einschüben, weil auch er nur kurz zögert, die sogenannten Liquidatoren in bestimmten Situationen in den sicheren Tod zu schicken.

    Mehr als eine Katastrophe

    Und so ist „Chernobyl“ viel mehr als ein Katastrophen-Drama mit Horrorbildern von Strahlenopfern, sondern vielmehr eine Charakterstudie, ein Gesellschaftsporträt über die Sowjetunion in den 80er Jahren und ein hochspannender Thriller, in dem die Untersuchung und diverse Vertuschungen geschildert werden. Über Legasov und Parteibonze Scherbina, der sich als weit menschlicher als zunächst angenommen erweist, bekommt der Zuschauer Zugang zu den Betroffenen: den Bürgern der Sowjetunion. Das lag Mazin besonders am Herzen, wie er bekundet. Er wollte die Auswirkungen der Katastrophe auf die Menschen zeigen. Wir finden: Das ist ihm durchweg und überaus stimmig gelungen. Immer wieder baut Mazin im Laufe der fünf zwischen 60 und 72 Minuten langen Episoden Nebenhandlungsstränge über Einzelschicksale ein.

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    Und selbst wenn sich getreue russische Staatsmedien schon über „Chernobyl“ mockierten und eine Gegen-Serie ankündigten, ist der Umgang mit der Katastrophe aus westlicher Sicht zwar schonungslos, aber grundanständig und fair. Künstlerische Freiheiten, wie die Schaffung der von Emily Watson gespielten fiktiven Forscherin Ulana Khomyuk, die stellvertretend für die vielen Wissenschaftler steht, die Legasov unterstützten, sind dramaturgisch legitim. Hier werden keine Klischees der „bösen Sowjets“ gepflegt, sondern differenzierte Charaktere präsentiert. Da ist der starre Staat, der alles kleinreden und vertuschen will, doch auch dessen Erfüllungshilfen haben ihre Motive. Aber da sind eben auch die Helden der Geschichte, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten dagegen angehen – immer mit dem KGB im Nacken und dem Wissen, was ihnen blüht, wenn sie zu weit gehen, bis zum finalen Showdown. Dabei kommt es „Chernobyl“ natürlich zu Gute, dass die Serie mit Jared Harris („Mad Man“) und Stellan Skarsgard („Good Will Hunting“) zwei alles überragende Hauptdarsteller aufzubieten hat.

    Fernsehen auf allerhöchsten Niveau

    Auch was die Produktionswerte angeht, ist „Chernobyl“ Top-Fernsehen. Neben dem menschlichen Drama und den Winkelzügen der beiden Protagonisten bei der Suche nach der Wahrheit kitzelt Regisseur Johan Renck alles an Spannung aus den knisternden Geigerzählern raus. Das Thema Tschernobyl berührt zwar vor allem Menschen persönlich, die damals die Katastrophe und ihre auch geographisch weitreichenden Folgen mindestens aus der Ferne erlebt haben (wie der Autor dieser Zeilen), aber Mazin gelingt es, etwas Universelles in der Zeit von Klimakatastrophen und den zunehmenden Forderungen nach Klimaschutz zu erzählen. Wir Menschen brauchen einen halbwegs intakten Planeten, um überhaupt leben zu können – so einfach ist das. Das wird bei aller Interessenpolitik mutwillig übersehen, auch im Fall Tschernobyl, wo sich der sowjetische Staat lange weigerte, die Konstruktionsfehler der RBMK-Reaktoren, die auch an anderen Kernkraftwerken standen, beheben zu lassen.

    Denn es hätte nicht viel gefehlt und der Lebensraum für 50 Millionen Menschen wäre unbewohnbar geworden – was wiederum der heldenhafte Einsatz der 600.000 mehr oder weniger freiwilligen Liquidatoren verhinderte, von denen viele sofort oder im Laufe der Jahre ihr Leben ließen. Offiziell sind laut Staatsangaben 31 Menschen bei dem Reaktorunglück ums Leben gekommen. Realistischere Einschätzungen bewegen sich zwischen 4.000 und 93.000. Allein 300.000 Menschen mussten eine auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und Weißrusslands errichtete, 2.600 Quadratkilometer große Sperrzone verlassen.

    Fazit: Schöpfer Craig Mazin bietet mit der Katastrophen-Drama-Serie „Chernobyl“ eine perfekte Mischung aus schmerzlicher Geschichtsstunde, überragend gespieltem Psycho-Thriller, feinem Gesellschaftsporträt und schierem menschlichen Drama. Fernsehen auf allerhöchstem Niveau, bei dem einige Szenen physisch und emotional nur schwer zu ertragen sind.

    In Deutschland lief „Chernobyl“ auf Sky und ist dort noch über Sky Ticket abrufbar.

     

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