Contra:
Die Dragos sind keine spannenden Gegenspieler!
Von Julius Vietzen
„Creed II“ beginnt vielversprechend: Die ersten Minuten widmet Regisseur Steven Caple Jr. komplett dem Antagonisten-Duo Ivan (Dolph Lundgren) und Viktor Drago (Florian Munteanu). Doch das Versprechen dieser ersten paar Szenen kann der Regisseur anschließend nicht halten: Die Dragos verschwinden nach und nach im Hintergrund und damit verschwindet auch die Gelegenheit eines Boxfilms mit zwei wirklich spannenden Gegenspielern.
Klar, der Gegensatz zwischen der tristen Welt der Dragos und dem Luxusleben des angehenden Schwergewichtsweltmeisters Adonis Creed (Michael B. Jordan) ist grundsätzlich interessant, doch die reine Umkehrung der Verhältnisse (in „Rocky IV“ war Rocky noch der mit den Steinzeit-Trainingsmethoden) reicht mir als Charakterzeichnung nicht aus. Viel mehr gibt es bei den Dragos aber nicht: Nach dem vielversprechenden Anfang verliert Caple seine beiden Bösewichte nämlich viel zu häufig aus den Augen und konzentriert sich stattdessen auf Adonis und seine Frau Bianca (Tessa Thompson). Das ist auch überhaupt nicht verwerflich, schließlich trägt die „Rocky“-Fortsetzung den Titel „Creed“ und nicht „Drago“. Doch es sorgt eben auch dafür, dass die späteren Szenen mit den Dragos nicht die Wucht haben, die sie haben könnten.
Lundgren ist nicht Stallone
Die Konfrontation zwischen Ivan und Rocky in Rockys Restaurant etwa hätte durchaus das Potential gehabt, eine mit Worten, statt Fäusten ausgetragene Wiederholung ihres Boxkampfes in „Rocky IV“ zu sein. Auch Stallone macht hier nicht viel mehr, als seine bekannte Rocky-Rolle runterzuspielen, die er mittlerweile wahrscheinlich im Schlaf beherrscht. Doch die Szene funktioniert für mich vor allem deswegen nicht, weil Dolph Lundgren sein Gegenüber einfach nur finster anstarrt und bedrohlich vor sich hin grummelt. Bei allem Respekt für Lundgren, der hier natürlich mehr Bandbreite zeigen darf als noch in „Rocky IV“ (was ja aber auch nicht viel heißt): Ihm gelingt es in meinen Augen nicht, die ganz großen Emotionen glaubhaft zum Ausdruck zu bringen oder auch nur unter der Oberfläche anzudeuten.
Show, don’t tell
Da habe ich Newcomer Munteanu die Mischung aus Wut, Unsicherheit und Verletzlichkeit in einigen der ruhigeren Momente schon eher abgenommen, etwa beim Wiedersehen von Ivan und Viktor mit Ivan Ex-Frau Ludmilla (Brigitte Nielsen). Doch auch diese auf dem Papier hochemotionale Szene kann nicht ihr ganzes Potential entfalten: Denn nur weil Ivan vorher ein paar Mal gesagt hat, wie schlimm es für ihn ist, von Ludmilla verlassen worden zu sein, glaube ich ihm das noch lange nicht. Denn dafür hat mir Caple einfach nicht oft genug gezeigt, wie schlecht es Ivan geht – kann er ja auch gar nicht, weil die Dragos eben nicht genug Leinwandzeit haben. Hier zeigt sich einmal mehr, warum „Show, don’t tell“ („Zeigen, nicht sagen“) eine der Maximen des Kinos ist.
Und apropos zeigen: Natürlich bietet es einen weiteren schönen Gegensatz zu „Rocky IV“, dass Ivan hier das Handtuch wirft, um seinen Sohn vor schlimmeren Verletzungen im Ring zu beschützen. Ivan versteht erst, was er an seinem Sohn hat, als sich Ludmilla im Angesicht von Viktors Niederlage endgültig von ihnen abwendet, schön und gut. Doch auch diese Entwicklung kommt für mich aus dem Nichts. Dass Ivan hier auf einmal zum liebenden Vater wird, hat Staple in meinen Augen nicht gut genug vorbereitet. Denn vorher war Viktor für ihn stets nur ein Mittel zum Zweck, ein Weg aus der Armut, eine Waffe, um es Rocky heimzuzahlen. Dass Viktor seinen zu ihm eilenden Vater nach der Niederlage zunächst wegstößt, weil er bereits die nächste wütende Predigt erwartet, sagt eigentlich schon alles darüber, wie unerwartet diese Entwicklung kommt…
Pro:
Die Dragos sind die besten Antagonisten der Reihe!
Von Tobias Tißen
Vorweg: Ich will gar nicht alle Punkte meines Kollegen Julius Vietzen von der Hand weisen. Vor allem hätte man den Dragos sicherlich noch mehr Leinwandzeit gönnen können, gerade im Mittelteil. Das ändert aber trotzdem nichts daran, dass die Dragos großartige Bösewichte sind – wenn man sie denn überhaupt als solche bezeichnen will. Mehr noch: Für mich ist das Vater-Sohn-Gespann sogar das Beste, was die „Rocky“-Reihe in puncto Antagonisten bisher zu bieten hatte.
Die Nachwehen des Jahrhundertkampfes
Was mein Vorredner nahezu komplett außer Acht lässt, aber bei einem „Rocky“-Film, an dessen Ende ein Kampf zwischen einem Creed und einem Drago steht, natürlich nicht ignoriert werden darf, ist die Vorgeschichte, die diese Paarung mit sich bringt. Klar, „Rocky IV - Der Kampf des Jahrhunderts“ ist eher ein spaßig-pathetischer Actionfilm als ein tiefgründiges Drama und die Figur Ivan Drago ist darin tatsächlich nicht gerade vielschichtig. Aber viel wichtiger ist auch, was für einen Einfluss dieser Film auf die weiteren Filme der Reihe und vor allem auf „Creed II“ hat.
Das Anrennen gegen Dragos Dampfhammer-Fäuste verursachte bei Rocky nämlich ein schweres Schädeltrauma, wie der Beginn von „Rocky V“ zeigt. Das ist auch der Grund, weshalb er seine Boxhandschuhe (zumindest bis zum Comeback-Kampf in „Rocky Balboa“) an den Nagel hängt. Aber vor allem hat Drago Apollo Creed (Carl Weathers) eiskalt umgebracht und anschließend nicht eine Spur von Reue gezeigt – und dass beides tiefe Wunden bei Rocky hinterlassen hat und er nicht an diese Zeit in seinem Leben zurückdenken will, zeigt sich in „Creed II“ ganz deutlich, als plötzlich ein Kampf zwischen Adonis und Viktor Drago im Raum steht. Der sonst so taffe italienische Hengst hat Angst vor einer erneuten Konfrontation, die Erinnerungen bereiten ihm sichtlich Schmerzen.
Aber einen noch deutlich größeren Einfluss hatte Ivan Drago auf das Leben von Adonis. Schließlich ist er der Grund, weshalb er ohne Vater aufwuchs. Mit einem lebenden Apollo hätte er vermutlich eine gänzlich andere Kindheit durchlebt, wäre nie einem Heim für Schwererziehbare gelandet und auch seine Karriere als Boxer hätte wohl einen ganz anderen Verlauf genommen. Sowohl in „Creed“ als auch in „Creed II“ gibt es diverse Szenen, die klarmachen, dass Adonis auch im Erwachsenenalter noch unter dem Verlust des Vaters leidet, den er nie kennenlernen durfte.
Ivan Drago hat also auf beide Protagonisten einen enormen Einfluss gehabt, hat beide in gewissem Maße gebrochen. Durch diese Historie ist allein sein Wiederauftauchen ein Schlag in die Magengrube für Rocky, Adonis – und jeden eingefleischten „Rocky“-Fan.
Die Vermenschlichung des Unmenschlichen
Doch dann gelingt Regisseur Steven Caple Jr. das, womit wohl nur die Wenigsten gerechnet haben: Aus der unmenschlich wirkenden, eiskalten Kampfmaschine Ivan Drago macht er eine vielschichtige Figur, die man verstehen kann, mit der man stellenweise sogar Mitleid bekommt. Und das beginnt schon mit der bereits von meinem Kollegen erwähnten, hervorragenden Eröffnungssequenz. Darin sehen wir nämlich, wie Viktor Drago gemeinsam mit seinem Vater die tägliche Trainingseinheit in der nebligen ukrainischen Tristesse antritt. Diese ersten Minuten vermitteln uns nie, dass es sich bei diesen beiden Männern um die Antagonisten der folgenden zwei Stunden handelt. Ganz im Gegenteil: Die ruhige Inszenierung hätte so auch aus einem der früheren „Rocky“-Filme stammen können, allerdings mit dem Titelhelden der Reihe im Mittelpunkt und natürlich in Philadelphia, nicht in Osteuropa. Selbst wenn Ivan Drago seinen Sohn nicht gerade mit Samthandschuhen anfasst, denn das hat Mickey (Burgess Meredith) mit Rocky auch nicht getan. Wir sehen hier also nicht mehr einen ehrgeizigen Vater und seinen Sohn. Menschen, keine Monster.
Und auch wenn der schwierigen Vater-Sohn-Beziehung im Laufe des Films sicherlich noch etwas mehr Zeit hätte eingeräumt werden können, gibt es genug Szenen, die verständlich machen, wieso beide sind wie sie sind und handeln, wie sie handeln. Die Niederlage gegen Rocky hat dafür gesorgt, dass Drago von der sowjetischen Führung verstoßen wurde und auch Frau Ludmilla ihn samt Sohn im Stich ließ. Die von Julius erwähnte Szene, in der das Wiedersehen der drei stattfindet, Viktor aus dem Raum prescht und seinen Vater anschließend konfrontiert, endlich seine Schwäche erkennt, weil er sich nur an die Erfolge der Vergangenheit klammert und mit aller Macht versucht, diese durch seinen Sohn wieder aufleben zu lassen, hat definitiv hohes emotionales Potential, das meiner Meinung nach auch voll ausgeschöpft wird. Ich muss vorher nicht mehrfach sehen, wie der Hüne ob seines Schicksals trauert – allein die enttäuschten Blicke der Dragos, Viktors Reaktion und das anschließende Wortgefecht zeigen mir, welche Enttäuschungen das Duo in den vergangenen drei Jahrzehnten hinnehmen musste und vor allem auch, wie sehr Viktor nicht nur darunter sondern auch unter Ivans Umgang damit litt.
Es war bizarr, als Brigitte Nielsen am "Creed II"-Set aufgetaucht ist: Unser Interview mit Dolph LundgrenSteven Caple Jr. und die Drehbuchautoren Sylvester Stallone und Cheo Hodari Coker präsentieren uns genau durch solche Momente eben keine Bösewichte, wie in allen anderen „Rocky“-Filme zuvor (selbst der legendäre Apollo Creed war in Teil eins nicht viel mehr als ein arroganter Fatzke), sondern vielschichtige Menschen mit nachvollziehbaren Schwächen und Problemen. Ivan Drago ist ein gebrochener Mann, dem alles genommen wurde, dessen Stolz verletzt ist und der nun, da es ihm selbst nicht mehr möglich ist, durch seinen Sohn versucht, die Familienehre wiederherzustellen. Und Viktor Drago ist ein Sohn, der durch eben dieses Denken und Verhalten seines Vaters eine enttäuschende, lieblose Kindheit und Jugend durchlebte und alles tun würde, um von seiner vermutlich einzigen Bezugsperson respektiert zu werden. Selbstverständlich sind beide in „Creed II“ über die meiste Zeit hinweg fiese Schweinehunde, vor allem Ivan Drago, doch das hat Gründe – und diese Gründe sind mitleiderregend.
Und so kommt auch das Handtuchwerfen am Ende des Films zwar plötzlich, diese Entwicklung Ivan Dragos aber keineswegs aus dem Nichts. Spätestens durch die Konfrontation nach dem Wiedersehen mit Ludmilla hat er erkannt, dass die Wiederherstellung der Familienehre nicht jedes Opfer wert ist und dass es nicht richtig ist, dafür den Menschen in den Allerwertesten zu krabbeln, die ihn und seinen Sohn einst verstießen. Zwar gibt er die Hoffnung auf einen spektakulären Sieg in Russland nicht auf – doch tief in ihm ist etwas aufgekeimt, das endgültig zu sprießen beginnt, als er sieht, dass seine Ex-Frau Viktor erneut im Stich lässt und bricht schließlich heraus, als er Viktor immer weiter leiden sieht. Immerhin war es seine beinharte Schule, die ihm beigebracht hat, dass Aufgeben keine Option ist.
Das ganz Offensichtliche
Wir sehen in „Creed II“ demnach zwei vielschichtige Antagonisten mit einer für den Film enorm wichtigen Vorgeschichte, sichtbaren Schwächen und nachvollziehbaren Problemen. Allein deshalb sind die Dragos hervorragende „Bösewichte“ und die besten Gegenspieler aller acht „Rocky“-Filme. Aber natürlich darf auch das ganz Offensichtliche nicht außer Acht gelassen werden: Der von Profi-Boxer Florian Munteanu verkörperte Viktor Drago ist eine enorm beeindruckende Gestalt, ein regelrechtes Tier. Mit seiner Statur und seinem dreckig-brutalen Äußeren stellt er seine Vorgänger definitiv in den Schatten – den durchtrainierten, aber nicht gerade furchteinflößenden Apollo Creed („Rocky I + II“), den bullig-brutalen Clubber Lang (Mr. T, „Rocky III“), die Großmäuler Mason Dixon (Antonio Carver, „Rocky Balboa“) und Ricky Conlan (Tony Bellew, „Creed“), ja, sogar Papa Ivan Drago mit seiner hünenhaften, fehlerlosen Modell-Athletik.
Darüber hinaus bringt der Newcomer die emotionalen Szenen überzeugend auf die Leinwand und hätte mir jemand im Vorfeld gesagt, er wäre ausgebildeter Schauspieler, ich hätte nicht daran gezweifelt. Und auch der sonst auf schweigsam-stoische Rolle festgelegte Dolph Lundgren darf endlich mal zeigen, was wirklich in ihm steckt. Natürlich ist das Schauspiel der beiden nicht auf dem Level eines Daniel Day-Lewis. Aber braucht es das? Ich denke nicht.
„Creed II“ läuft seit dem 24. Januar 2019 in den deutschen Kinos.