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    "Auslöschung" ist nur der Anfang: Netflix "klaut" die guten Filme aus den Kinos

    Bereits Ende 2017 berichteten wir, dass „Auslöschung“ in Deutschland womöglich nicht in die Kinos kommt. Nun ist es gewiss. Der Film ist Teil einer neuen Strategie von Netflix. Für FILMSTARTS-Redakteur Björn Becher Anfang einer fatalen Entwicklung.

    Paramount Pictures

    Als wir unsere große Top-100-Vorschau für das Kinojahr 2018 erstellten, gab es bei uns die Diskussion, ob wir Alex Garlands „Auslöschung“ einbauen sollten. Denn schon damals machte die Meldung die Runde, dass der deutsche Kinostart in Kürze abgesagt werden könnte, da Netflix den Film in vielen Ländern exklusiv über seinen Streamingdienst anbieten wird. Wir entschieden uns dann trotzdem dafür, denn zum einem bekamen wir von Paramount zum damaligen Zeitpunkt die Auskunft, dass der Kinostart noch stehe, zum anderen ist das neue Werk von „Ex-Machina“-Regisseur Alex Garland einer der Filme, auf die wir uns am allermeisten freuen. Der Science-Fiction-Thriller mit Natalie Portman landete so auf Platz vier in unserer Liste.

    Nun ist aber sicher: „Auslöschung“ wird es nicht in den deutschen Kinos zu sehen geben, sondern nur auf Netflix. Der Streamingdienst bekam die Rechte, um den Film frühestens 17 Tage nach dem US-Kinostart zu zeigen (ursprünglich sollte er einen Tag vor US-Kinostart in die deutschen Kinos kommen). Dieses Vorgehen ist Teil einer neuen Strategie des Streamingdienstes, die ich euch nachfolgend erläutern will. Zudem möchte ich euch erklären, warum ich als Filmfan diese Strategie für einen großen Fehler halte und sie der Anfang einer sehr fatalen Entwicklung sein könnte.

    Eigene Serien und Filme auf Netflix

    Im Kampf um Kunden erkannte Netflix schon vor Jahren, dass man diesen exklusive Inhalte bieten muss. Der Streamingdienst investierte daher Unsummen in die Produktion eigener Serien quer durch alle Genres und Stilrichtungen. Doch früh fiel auch die Entscheidung, sich stärker am Filmgeschäft zu beteiligen. Als Netflix im Herbst 2015 „Beasts Of No Nation“ herausbrachte, sorgte dies für viel Aufsehen. Für zwölf Millionen Dollar kaufte der Streamingdienst damals die exklusiven weltweiten Rechte. In den USA gab es in Partnerschaft mit einem Verleih immerhin noch einen kleinen Kinostart, im Rest der Welt nicht.

    Netflix fährt seitdem zweigleisig. Auf sogenannten Filmmärkten und im Umfeld von Festivals tritt man immer stärker als Konkurrent der klassischen Filmverleiher auf und kauft bereits unabhängig produzierte und fertiggestellte Filme ein, die man dann als „Netflix Originals“ anbieten kann – obwohl man in die Filmherstellung gar nicht involviert war. Doch daneben steigt Netflix auch früh selbst in Projekte ein. Mit dem Will-Smith-Ork-Actioner „Bright“ fuhr man auf diese Weise gerade einen beachtlichen Erfolg ein: Man kaufte das Drehbuch für kolportierte drei bis vier Millionen Dollar, steckte satte 100 Millionen Dollar in die Produktion und fand weltweit in wenigen Tagen mehr Zuschauer als viele Kino-Blockbuster.

    "Bright" ist für Netflix ein Erfolg: Mehr als 11 Millionen US-Zuschauer an den ersten drei Tagen

    Netflix genießt in diesem Zusammenhang in der Branche einen guten Ruf, denn der Streamingdienst gibt Filmemachern und Autoren große Freiheiten. David Ayer durfte „Bright“ so machen, wie er wollte. Vor allem nützt dies aber Filmemachern, die es im Studiosystem schwer haben. „Okja“ von Bong Joon-ho ist dafür ein exzellentes Beispiel. Der Koreaner äußerte sich nur lobend über das Studio, das ihm außer der Vorschrift, digital und nicht auf 35mm zu drehen, alles erlaubt habe. Er durfte mit seinem Team arbeiten und vor allem bekam er den finalen Schnitt – ein Privileg, das im klassischen Hollywoodsystem die Ausnahme ist. Um es klarzustellen. Dagegen habe ich gar nichts. Ich finde es sogar gut, dass Netflix bei der Realisierung von Filmen hilft, die wir sonst nicht oder nur als Kompromiss der Macher mit einem Studio zu sehen bekommen würden. Was mir Sorgen bereitet, ist der nun mit „Auslöschung“ einhergehende neue Ansatz von Netflix…

    Die neue Strategie von Netflix

    Netflix will künftig mindestens 80 Filme pro Jahr exklusiv herausbringen. Diese kann der Dienst aber nicht alle in Eigenregie produzieren lassen. Auch beim Wettbieten in Konkurrenz zu den Kinoverleihern kann nur eine begrenzte Anzahl an Filmen zu einem irgendwie noch vernünftigen Preis erworben werden. Daher brauchte es eine neue Strategie und „Auslöschung“ soll der Test für diese sein. Netflix geht nicht mehr in Konkurrenz zu Filmverleihern, sondern kooperiert mit diesen.

    In Ländern, in denen sich der Verleih gute Einspielzahlen erhofft, kommt ein Werk bei diesem Deal künftig noch ins Kino, für den Rest der Welt zahlt der Streaminggigant eine Garantiesumme und bringt den Film exklusiv heraus. Hier in Deutschland werden wir fast immer in eben jenem „Rest der Welt“ landen. „Auslöschung“ wird so in Nordamerika (USA und Kanada) sowie China auf der großen Leinwand laufen, den beiden größten und wichtigsten Filmmärkten der Welt. Es ist davon auszugehen, dass dies fast immer die beiden Regionen sein werden, die noch einen Kinostart bekommen, der Rest muss auf Netflix schauen. Denn es soll eine bestimmte Sorte Film ins Visier genommen werden....

    Netflix "klaut" die guten Filme aus den Kinos

    Netflix will nämlich vor allem jene Filme herauspicken, die irgendwie besonders sind, es aber in den Kinos eher schwer haben würden, weil sie zu keinem etablierten Franchise gehören oder über massig Starpower dank Mega-Budget verfügen. Als „challenging midbudget movies“ wird dieses Beuteschema umschrieben, als Blaupause wird Alex Garlands „Ex Machina“ genannt, der 2015 noch in die Kinos kam und zukünftig wohl in den Fängen von Netflix landen würde. Der mit 4,5 Sternen bewerte „Ex Machina“ bescherte uns phantastische Bilder - diese Bilder entfalten ihre volle Pracht im Kino, wo sie uns zukünftig fehlen würden.

    Es brechen also gerade die Filme weg, die es im Kino besonders schwer haben. An der Spitze der Jahrescharts 2017 stehen Fortsetzungen („Fack Ju Göhte 3“, „Ich – Einfach unverbesserlich 3“, „Star Wars 8“) oder neue Adaptionen bekannter Stoffe („Die Schöne und das Biest“, „Es“). Einen originären Stoff findet man mit „Passengers“ erst auf Platz 19 – beflügelt von der seltenen Kombination der Superstars Jennifer Lawrence und Chris Pratt. Werke wie „Logan Lucky“ oder „Jackie“ fanden trotz hochkarätiger Besetzung nur 200.000 oder weniger Zuschauer. Es wären genau die Filme, die nun ins Visier von Netflix geraten würde. Selbst kurzweiligere Actionkost wie „Atomic Blonde“ oder „Killer's Bodyguard“ landet dann vielleicht im Netflix-Beuteschema, da keine Massen ins Kino gelockt werden. Auch ein streitbarer Film wie „mother!“ findet sein Zuhause dann womöglich eher bei Netflix als im Kino

    Win-Win-Situation für alle außer den Kinoliebhabern

    Netflix argumentiert damit, dass es eine Win-Win-Situation für alle ist. Der Verleih muss nicht mehr zusätzliches Geld in die Hand nehmen, um den Film rund um den Globus zu bewerben. Und er kann mit garantierten Einnahmen aus dem Netflix-Deal rechnen. Das freut den Buchhalter, denn niemand kalkuliert mit den bei den angesprochenen mittelgroßen Produktionen unverlässlichen Kinogängern, die einem mal einen Hit, aber oft auch einen Flop bescheren.

    Laut Netflix sind der Zuschauer und die Filmemacher ebenfalls Gewinner. Letztere sollen sich darüber freuen, dass nun viel mehr Leute ihr Werk sehen, sie ein größeres Publikum erreichen. Und der Zuschauer bekommt den Film direkt nach Hause auf die Couch geliefert, muss jenseits seines Monatsbeitrages nicht mehr extra zahlen, nicht den weiten Weg ins Kino auf sich nehmen und dort noch Geld für Popcorn und Getränke lassen. Dass „Kino, dafür werden Filme gemacht“ kein abgedroschener Werbespruch ist, sondern die Meinung vieler Fans – inklusive des Autors dieser Zeilen – versteht man bei Netflix anscheinend nicht.

    Filmemacher als Widerstandsbollwerk?

    Und selbst die Filmemacher sehen sich nicht unbedingt als Gewinner. Bong Joon-ho schwärmte zwar von den kreativen Freiheiten, doch genau die greifen bei dem neuen Modell nicht. Gearbeitet wird dann nämlich trotzdem klassisch im Studiosystem. „Auslöschung“-Regisseur Alex Garland ist daher auch „enttäuscht“, dass sein Film in ganz Südamerika, ganz Europa, Afrika und Asien (außer China) nicht im Kino zu sehen sein wird. Er habe seinen Film für ein bestimmtes Medium unter bestimmten Voraussetzungen gemacht. Sein Film sei nun einmal gemacht worden, um ihn auf der großen Leinwand zu sehen, so der Regisseur zu Collider. Das sei nicht vergleichbar mit der Situation anderer Kollegen, die wussten, dass sie ihren Film für Netflix machen.

    Christopher Nolan lässt sich derweil bereits vertraglich zusichern, dass seine Filme immer zuerst im Kino gezeigt werden. Er wetterte bereits mehrfach öffentlich gegen das Gebaren von Netflix, Filme nicht in die Lichtspielhäuser zu bringen. Liegt damit unsere Hoffnung nun auf den Filmemachern, die sich gegen das Modell sträuben? Nein. Ein Nolan kann eine solche Klausel mit seinem Haus-und-Hof-Studio Warner vielleicht noch recht einfach aushandeln. Dort würde man seit dessen Erfolg mit der „Dark Knight“-Trilogie wahrscheinlich auch nicken, wenn er für 150 Millionen Dollar das Telefonbuch von Buxtehude verfilmen will. Doch was Nolan oder vielleicht auch Spielberg und Tarantino können, können die meisten anderen nicht. Und gerade die stehen im Fokus von Netflix. Garland kann so seine „Enttäuschung“ zwar öffentlich kommunizieren, aber dagegen machen kann er nichts und das obwohl sein Produzent Scott Rudin („The Social Network“) sich auf seine Seite stellte. Doch selbst dem einflussreichen Oscarpreisträger gelang es nicht, den Deal zu verhindern.

    Amazon macht es besser

    Dabei gibt es bereits ein Modell, das zeigt, dass es auch anders gehen kann - und es ist ausgerechnet der Konkurrent, dem Netflix nun nacheifert. Man kann Amazon auf vielen Ebenen harsch und scharf kritisieren (Arbeitsschutz, das Ausnutzen von Steuerschlupflöchern), doch was der Anbieter im Film-Bereich macht, ist der bessere Weg.

    Der Versandhändler setzt wie Netflix nicht nur auf eigenproduzierte Filme („Paterson“ von Jim Jarmusch, „Elvis & Nixon“ mit Kevin Spacey), sondern holt sich ebenfalls Rechte in Kooperation mit klassischen Kinoverleihern – wie zum Beispiel für „Manchester By The Sea“ oder „Die verlorene Stadt Z“. Dabei gilt bislang die Regel: Die Filme – selbst wenn sie von Amazon komplett finanziert wurden – kommen zuerst ins Kino - und auch außerhalb Nordamerikas. So haben alle Zuschauer etwas davon: Wer den Film auf der großen Leinwand sehen will, bekommt die Chance. Wer lieber auf dem heimischen Sofa sitzt, kann ihn später dort auch ganz bequem im Rahmen seines Abos sehen.

    Was folgt nach "Auslöschung"?

    Für 2018 dürfen wir sicher mehrere Filme erwarten, die hier gar nicht mehr im Kino landen, obwohl sie aktuell noch einen Starttermin haben – irgendwie muss Netflix seine Ankündigung von 80 Filmen für 2018 ja realisieren. „Auslöschung“ ist laut dem Branchenmagazin Deadline ein Testballon. Wird der erfolgreich, wird Netflix noch mehr mit den Kinoverleihern zusammenarbeiten und eine ganze Reihe solcher Deals schließen. Beim neuen „Shaft“-Film mit Samuel L. Jackson steht so zum Beispiel schon fest, dass es einen Kinostart nur in Nordamerika geben wird. Im Rest der Welt ist das Thema nicht zugkräftig genug, Netflix bekommt daher die Rechte.

    Und natürlich wird der Test erfolgreich. Paramount hat jetzt schon das Gros der Ausgaben für „Auslöschung“ wieder eingenommen. Und auch ich will das Werk von Alex Garland sehen, Netflix ist die einzige Option neben einer USA-Dienstreise. Der Streamingdienst wird also kurz nach Veröffentlichung des Films Erfolgszahlen vermelden. Netflix wird so immer mehr der „challenging midbudget movies“ – wie es so schön in der US-Berichterstattung heißt – exklusiv in Deutschland zeigen. Im Kino bleiben die Blockbuster zurück und im schlimmsten Fall wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt: Wenn immer mehr dieser „herausfordernden Filme“ bei Netflix zur Verfügung stehen, wählen vielleicht immer mehr Zuschauer diesen bequemen Weg und entscheiden sich für den neuen Film auf Netflix statt für den im Kino. Dort bleiben immer mehr Zuschauer bei diesen Filmen weg, so dass immer mehr Verleiher versucht sind, das Angebot von Netflix anzunehmen…

     

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