Seit im Jahr 2000 der erste „X-Men“-Film erschien, dauert der Siegeszug der Superheldenfilme unvermindert an und es hat nicht den Anschein, dass das Genre in naher Zukunft wieder von der Bildfläche verschwindet. Im Gegenteil, allen Unkenrufen zum Trotz sind wir überzeugt, dass Superheldenfilme auch in den kommenden Jahren weiterhin sehr erfolgreich bleiben werden. Ein wenig Vorsicht ist dennoch geboten, damit das Publikum nicht die Lust verliert: Der Flop „Fantastic Four“ hat gezeigt, dass nicht mehr alles geschaut wird, nur weil es auf einem bekannten Comic basiert. Zudem kommen allein in diesem Jahr noch fünf weitere Superheldenfilme in die Kinos, dazu Marvel- und DC-Serien wie „Arrow“, „The Flash“, „Jessica Jones“ oder „Agents of S.H.I.E.L.D.“ im TV oder auf Netflix. Allerdings folgen die meisten dieser Formate brav den Konventionen des Genres – sie erzählen ähnliche Geschichten und richten sich vornehmlich an ein junges (männliches) Publikum.
Neue Konzepte und Ansätze müssen also her! Marvel hat in seinem Kinouniversum bereits die ersten (vorsichtigen) Schritte in diese Richtung unternommen: „Captain America 2: The Return Of The First Avenger“ etwa ist ein für Comic-Verhältnisse geradezu realitätsnaher Politthriller, „Ant-Man“ ein augenzwinkernder Heist-Film.
Aber nun katapultiert Fox das Genre mit „Deadpool“ auf einen Schlag radikal vorwärts: Einen Mainstream-Superheldenfilm mit derart derbem Humor, explizitem Sex und drastischer Gewaltdarstellung hat es bisher noch nicht gegeben (nein, auch nicht mit „Blade“, „The Punisher“ oder „Kick-Ass“).
Und weil Hollywood und seine Entscheidungsträger leicht ausrechenbar sind, darf man getrost davon ausgehen, dass es direkt nach dem sensationellen Startwochenende von „Deadpool“ bei allen großen Studios ersten Notfallmeetings gab, in denen überlegt wurde, wie sich der Erfolg von „Deadpool“ kopieren lässt…
Die ersten Auswirkungen davon zeigten sich nur wenige Tage später: Dass „Wolverine 3“ nun womöglich doch ein R-Rating bekommen soll und „Batman V Superman“ eine extraharte Version fürs Heimkino erhält, ist ziemlich sicher dem „Deadpool“-Erfolg zu verdanken.
Wir begrüßen diese Entwicklung: Die Schere im Kopf, die über Jahre dafür gesorgt hat, dass über solche gewagteren Ideen nicht einmal laut nachgedacht wurde, ist damit erst mal Geschichte!
Immerhin war Fox auch von „Deadpool“ nicht von Anfang an überzeugt, ganz im Gegenteil: Hauptdarsteller und Produzent Ryan Reynolds musste elf Jahre für sein Herzensprojekt kämpfen, wobei er auch zu unlauteren Methoden griff. Eigentlich nur für die Studiobosse bestimmte Testaufnahmen landeten „zufällig“ im Internet und erst die überwältigende positive Fanresonanz überzeugte die Verantwortlichen schließlich von dem Projekt (selbst wenn sie dafür nur ein für Blockbuster-Verhältnisse läppisches Budget von 58 Millionen Dollar lockermachten).
Ganz entscheidend ist nun aber, dass die Studios nicht blindlings versuchen, „Deadpool“ einfach zu kopieren. Vielmehr sollten die neuen Möglichkeiten, die sich dank den „Deadpool“-Tabubrüchen nun bieten, auf eine Art genutzt werden, die auf die jeweiligen Superhelden und ihre Geschichten zugeschnitten ist – das forderte auch „Guardians Of The Galaxy“-Regisseur James Gunn jüngst in einem Facebook-Post. Einem Film um jeden Preis ein R-Rating zu verpassen, ist genauso falsch wie ein „Deadpool“ mit teuer erkaufter Jugendfreigabe.
In den 1990ern waren Superheldenfilme meist einfach nur Actionfilme mit Kapuzenträgern (siehe „Fantastic Four“), da es unter den Filmemachern und Verantwortlichen kaum echte Comic-Fans gab. Seit „Iron Man“ hat sich das zwar geändert, aber es wurden trotzdem immer noch Zugeständnisse an die Zuschauer gemacht, die die Filme sonst angeblich nicht sehen wollen. Erst „Deadpool“ hat jetzt gezeigt, dass man sich sehr wohl auch an abseitigere Comics halten darf, ohne dafür vom Mainstream-Publikum abgestraft zu werden, ganz im Gegenteil: „Deadpool“ ist aktuell auf gutem Wege, Mel Gibsons „Die Passion Christi“ als erfolgreichster R-Rated-Film in der Geschichte des US-Box-Office abzulösen:
Die 25 erfolgreichsten R-Rated-Filme aller Zeiten an den US-KinokassenAber „Deadpool“ ist nicht nur auf Seiten der Macher wichtig für die Zukunft des Superheldengenres, auch beim Publikum entfacht er wieder neue Lust: Nach 16 Jahren voller ähnlicher Heldengeschichten empfindet ein Teil der Zuschauer zunehmend einen Überdruss, was sich auch daran zeigt, dass selbst an Vorzeige-Produktionen wie „Avengers 2: Age Of Ultron“ nicht nur viel herumgenörgelt wurde, sondern die Fortsetzung zumindest in den USA auch deutlich weniger eingespielt hat als ihr Vorgänger. So ein Überdruss braucht ein Ventil – und das bietet nun „Deadpool“.
Spätestens seit Christopher Nolans „Dark Knight“-Trilogie werden Superheldenfilme als Genre von Studios, Fans und Kritikern gleichermaßen ernst genommen. Natürlich ist ein gewisser ironischer Humor ein Merkmal von vielen Comicverfilmungen (besonders im Marvel Cinematic Universe), aber selbst „Guardians Of The Galaxy“ oder „Ant-Man“ parodieren nicht das eigene Genre oder machen sich grundsätzlich über die Idee eines kostümierten Superhelden auf Verbrecherjagd lustig.
„Deadpool“ hingegen dreht das gesamte Genre genüsslich durch die Mangel: Bereits im Vorspann nehmen Regisseur Tim Miller und seine Autoren das typische Figureninventar einer Comicverfilmung aufs Korn: Statt den Namen der Schauspielern stehen da nur Rollenklischees wie „eine heiße Braut“, „ein britischer Bösewicht“, „eine CGI-Figur“. Auch später feuert Ryan Reynolds als Deadpool immer wieder bissige Kommentare zum Handlungsverlauf ab, etwa wenn er seinen eigenen, wenig erfolgreichen Superheldenauftritt in „Green Lantern“ parodiert („bloß nicht grün oder animiert“ soll sein neues Outfit sein). Auch die eigenen Geldgeber werden kritisiert, wenn Deadpool lakonisch anmerkt, dass Fox für mehr als zwei eher unbekanntere X-Men (Colossus und Negasonic Teenage Warhead) einfach nicht genug Geld rausgerückt hat.
So leistet „Deadpool“ auch einen Beitrag psychologischer Natur: Ganz wie die Karnevalszeit (die passenderweise einen Tag vor dem Start von „Deadpool“ endete) dazu dient, den angestauten Politik- und Alltagsfrust endlich mal rauslassen zu können, kann sich an „Deadpool“ all das entladen, was den Zuschauer ansonsten an Superheldenfilmen nervt. Einmal „Deadpool“ anschauen und mit ihm gemeinsam über die Schwächen und Klischees des Superheldenkinos lachen – und dann schaut man sich auch gerne wieder etwas konventionellere Genrebeiträge an!