Neu auf Netflix: Diese blutige FSK-18-Fortsetzung eines Horror-Meisterwerks ist viel besser als ihr Ruf
Pascal Reis
Pascal Reis
-Redakteur
Pascal liebt das Kino von „Vertigo“ bis „Daniel, der Zauberer“. Allergisch reagiert er allerdings auf Jump Scares, Popcornraschler und den Irrglauben, „Joker“ wäre gelungen.

Neben „Alien“ und „Blade Runner“ hat Ridley Scott auch Filme inszeniert, die nicht sonderlich gut angenommen wurden. So zum Beispiel „Hannibal“, der zwar nicht an den Vorgänger „Das Schweiger der Lämmer“ heranreicht, dennoch definitiv sehenswert ist.

Das Schweigen der Lämmer“ hat Filmgeschichte geschrieben. Nicht nur, weil er als Horror-Thriller absolut nervenzerrende Hochspannung bietet und damit oftmals in einem Atemzug mit David Finchers „Sieben“ genannt wird. Als ein solcher Genre-Vertreter konnte der Film von Regisseur Jonathan Demme auch bei den Oscars abräumen – und zwar in den Kategorien, auf die es ankommt: Bester Film, Beste Regie, Hauptdarsteller, Hauptdarstellerin und Drehbuch.

In einer Zeit, in der Genre- und speziell Horrorfilme bei den Oscars ein eher stiefmütterliches Dasein fristen mussten, war der Siegeszug von „Das Schweigen der Lämmer“ absolut außergewöhnlich. So außergewöhnlich, dass auch Thomas Harris, Autor der Vorlage, so seine Probleme damit hatte, eine Fortsetzung zu schreiben, weil er ständig Anthony Hopkins als Kannibalen Hannibal Lecter vor Augen hatte.

Nachdem Harris 1999 dann den Roman „Hannibal“ ablieferte, war es natürlich nur eine Frage der Zeit, bis auch die Verfilmung folgte – und 2001 trat dies unter der Regie von Ridley Scott ein. Klingt allein aufgrund der Regisseurs, der uns „Alien“, „Blade Runner“ „Gladiator“ und „Black Hawk Down“ brachte, erneut nach Oscar-Ware, oder? Von wegen! „Hannibal“, der jetzt bei Netflix gestreamt werden kann, wurde größtenteils von der Kritik verrissen und konnte auch beim Publikum für wenig Begeisterung sorgen. Leider!

Feinster Edeltrash, wie man ihn nur selten sieht

Das Besondere an „Hannibal“ im Gegensatz zu „Roter Drache“ (der in den 1980er-Jahren von Michael Mann bereits als „Blutmond“ adaptiert wurde) und „Das Schweigen der Lämmer“ ist der Umstand, dass man Dr. Hannibal Lecter hier zum ersten Mal so richtig bei seinem blutigen Handwerk als kannibalischer Serienkiller beobachten darf. Obgleich es in „Der Schweigen der Lämmer“ und „Roter Drache“ auch nicht zimperlich zur Sache ging, war die Gewalt wohldosiert und ging seltener von Hannibal selbst aus.

Dieser Punkt legt auch quasi die Weichen für die Tonalität von „Hannibal“, der nicht mehr unbedingt als hochgradig atmosphärisches Spannungskino funktionieren möchte, in dem man ausgefeilte Charaktere geboten bekommt. Stattdessen hat Ridley Scott die Gunst der Stunde ergriffen und teuren (Budget: knapp 90 Millionen US-Dollar) Edeltrash in Szene gesetzt und erinnert dabei oftmals an das reißerische Exploitationskino der 1970er-Jahre, in dem der grelle Effekt stetig im Vordergrund stand.

Ridley Scott lässt inszenatorisch zwar erneut die Muskeln spielen und als Zuschauer*innen mit einem Faible für elaborierte Kamerafahrten, detailversessene respektive prunkvolle Sets und meisterhafte Licht-und-Schatten-Spiele, kommen hier ganz auf ihre Kosten. Tatsächlich aber ist das Ganze so plakativ und verschwenderisch in Szene gesetzt, dass „Hannibal“ nicht nur gerne wie eine Seifenoper anmutet, sondern auch wie das Ergebnis formalästhetischer Selbstbeweihräucherung.

Ein Film, den man zu nehmen wissen muss

Das wäre ein Problem, würde Ridley Scott hier nicht genüsslich mit offenen Karten spielen – und sich, wie schon gesagt, am Kino der 1970er-Jahre orientieren. Die Geschichte ist ihm eigentlich egal, ihm geht es nur darum, möglichst virtuose, durch und durch dekadente Bildwelten zu schaffen. Und das ist in diesem Fall nicht nur hochgradig unterhaltsam, sondern auch verdammt faszinierend. Mann muss nur wissen, wie man „Hannibal“ zu nehmen hat. Wer ein Meisterwerk der Marke „Das Schweigen der Lämmer“ erwartet, scheitert nicht nur an dem Film, sondern auch an sich selbst.

Und da kommt dann auch die Gewalt zum Einsatz, die in diesem millionenschweren Leinwand-Schundroman natürlich keinesfalls zu kurz kommt. Fast schon satirisch gibt sich „Hannibal“ den blutigen Exzessen der Vorlage hin und zelebriert es regelrecht, wenn Wildschweine im Blutrausch über menschliche Körper herfallen oder der kürzlich verstorbene Ray Liotta – nun, ja – verzichtbare Teile seines eigenen Gehirns verspeist. Natürlich aromatisch mit Trüffel angereichert!

Was Anhänger*innen von „Das Schweiger der Lämmer“ aber wirklich störend empfinden dürfen, ist die Darstellung von Hannibal Lecter selbst. Wenn man sich an die diabolische Aura von Anthony Hopkins erinnert, die den Film quasi an sich gerissen hat, dann ist „Hannibal“ eine fast schon herablassende Antithese dazu. Hier gockelt Hopkins durch Florenz als wäre er vom Laufsteg der Fashion Week gefallen. Das ändert letztlich aber nicht daran, dass „Hannibal“ als kuriose Edeltrash-Oper wirklich eine sensationelle Sause ist.

Und falls ihr wissen wollt, welche Serie aktuell die Netflix-Charts erobert, müsst ihr den nachfolgenden Artikel lesen:

In 79 (!) Ländern auf Platz 1: Gefeierte Serie stürmt die Netflix-Charts

Dies ist eine Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.

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