Kinotipps für die Berlinale-Konkurrenz: 3 Filme, die ihr bei der Woche der Kritik auf keinen Fall verpassen solltet!
Kamil Moll
Kamil Moll
-Freier Autor
Kamil Moll schreibt als freier Autor für zahlreiche Publikationen über Film, Literatur und Popmusik. Bei FILMSTARTS.de ist er regelmäßig als Kritiker im Einsatz und führt für uns auch zahlreiche Interviews.

Seit ihrer Gründung 2015 widmet sich die parallel zur Berlinale organisierte Woche der Kritik einem Kino, wie es oftmals auf größeren Festivals kaum stattfindet. Wir empfehlen euch aus dem diesjährigen Programm drei besonders sehenswerte Filme!

Dweck Productions

Die Woche der Kritik läuft parallel zur Berlinale-Zeit und präsentiert ein bewusst kontrastierendes Filmprogramm. Ein möglicher Pate dafür war sicherlich die Critics' Week in Cannes, eine von Kritiker*innen in den frühen 1960er-Jahren ins Leben gerufene Alternative zu den großen Filmfestspielen, die anschließend eine Art inoffizielle Nebensektion des Festivals geworden ist. Auch die von Mitgliedern des Verbandes der deutschen Filmkritik begründete Woche der Kritik verschreibt sich ganz einer Auswahl von Filmen, die in den Augen der Betreiber*innen von größeren Festivals eher selten berücksichtigt werden. Insbesondere das so voluminöse wie unsortierte Programm der Berlinale bietet dabei seit den frühesten Ausgaben eine gern in Angriff genommene Reibungsfläche.

Das Berliner Kino in den Hackeschen Höfen, das mit seiner konkurrenzlos exzellenten Vorführungsqualität und kenntnisreich kuratierten Reihen analog präsentierter Filmkopien längst eines der cinephilen Zentren der Stadt ist, beherbergt das Festival seit Anbeginn. Filme von Andrzej Żuławski oder Philippe Grandrieux waren bislang in Verbindung mit ausführlichen, die Screenings begleitenden Diskussionsformaten zu sehen, aber auch zahlreiche Vertreter eines Genre-Kinos, wie es hierzulande sonst kaum zu sehen ist: ein Anime von Masaaki Yuasa beispielsweise oder der kunstvoll-eigensinnige Superheldenfilm „Shin Ultraman“.

Vor zwei Jahren feierte sogar der Filmemacher Dominik Graf die Weltpremiere seines Films „Jeder schreibt für sich allein“ im Rahmen der Reihe. Auch bislang wenig beachtete Highlights des nordamerikanischen Independent-Films sind ein fester Bestandteil. Wir haben uns (fast) das ganze Programm der 2025er-Ausgabe bereits angesehen – und wollen euch drei besonders sehenswerte Vertreter dieses Kinos unbedingt empfehlen: von einer eigensinnigen Geistergeschichte hin zu einer bösartigen Slacker-Komödie und einer dokumentarisch-fiktionalen Vergangenheitssuche mit monumentalem Atem! Das komplette Programm mit allen Gesprächen und Gästen findet ihr unterdessen hier: Das Programm für die Woche der Kritik 2025!

Tipp Nr. 1: Eine etwas andere Geistergeschichte

Seinen Bruder liebt man möglicherweise selbst dann noch, wenn man ihn nur noch als „stupid fucking piece of shit“ bezeichnen kann. Der Tod ihres Vaters bringt in Before You Fade Away Into Nothing zwei Geschwister zueinander, die sich nicht grundlos aus dem Weg zu gehen scheinen. Tristan, der Ältere, mit einem gewissen Mut zu hässlichen Frisuren gespielt vom Regisseur selbst, lebt im Keller des Hauses seines Vaters.

Dort schläft er auf einer schmuddeligen Matratze inmitten von mit eigenem Urin gefüllten Plastikbeuteln. Malik (Nican Robinson), der beruflich und familiär erfolgreichere, leidet unter Panikattacken, die ihn befallen, wenn er von eingeübten Verhaltensregeln abweicht. Das klingt nach einer sehr typischen Geschichte für eine durchschnittliche Tragikomödie, aber Regisseur Skinner Myers verwandelt sie in eine so launige wie visuell eigenwillige Geistergeschichte.

Nur für Tristan sichtbar verbringt der verstorbene Vater nämlich weiterhin seine Zeit auf der Couch vor dem Fernseher und schaut sich alte Videoaufnahmen der beiden Söhne an. Bis er schließlich eine Anweisung gibt, was mit seinen Überresten geschehen soll. In langen, sich langsam, aber konzentriert entwickelnden Sequenzen folgt der Film in schwarz-weiß und auf 35mm gedreht zwei von Familienstrukturen Beschädigten bei ihrer missglückenden Annäherung. Bis sich die angestaute Anspannung schließlich inmitten einer verschneiten Berglandschaft, die an Sergio Corbuccis Italowestern-Elegie „Leichen pflastern seinen Weg“ gemahnt, in einem rabiaten Showdown entlädt.

Tipp Nr. 2: Die Fortsetzung eines absoluten Kultfilms

Die stille Verzweiflung eines unerfüllten Lebens in den mittleren Jahren nagt an den beiden ältlich gewordenen Slackern in Vulcanizadora (aus dem auch das Titelbild dieses Artikels stammt). Marty (Joshua Burge) und Derek (gespielt von Regisseur Joel Potrykus) unternehmen gemeinsam eine Wandertour durch die Wälder von Michigan. In reglosen Bildern, auf grobkörnigem 16mm-Material gedreht, verharrt der Film geradezu boshaft lange bei der hochnotpeinlich spätpubertären Scheiße-Laberei zweier Männer, die sich nicht einmal mehr gegenseitig noch etwas vormachen können.

Mit Chipstüten und einem mit Jägermeister gefüllten Flachmann in Armee-Tarnfarben ausgestattet, graben die beiden vor Jahrzehnten versteckte Pornohefte in einem versifften Plastikbeutel wieder aus und filmen sich mit einem alten DV-Camcorder, wie sie Feuerwerkskörper durch den Wald jagen: Selbst über den liebgewonnen und nostalgisch verbrämten Schrott ihrer Jugend führt kein Weg mehr zurück in die behagliche Vergangenheit.

2014 drehte Potrykus mit „Buzzard“ schon einen (Kult-)Film über die beiden knuffigen Taugenichtse. Seines Jobs in einer Hypothekenbank überdrüssig, bastelte Marty sich darin aus Steakmessern einen eigenen Freddy-Krueger-Handschuh, mit dem er schließlich den Chef eines Kreditladens aufschlitzte. Nun steht ihm wiederum ein Gerichtsverfahren bevor, bei dem an seiner Schuld kein weiterer Zweifel besteht, während Dereks Ehe in die Brüche gegangen ist und er vergeblich um die Fürsorge für seinen Sohn kämpft.

Von ihrem Wandertrip wollen deshalb beide nicht mehr zurückkehren, weshalb alles in einer Katastrophe enden muss, die gleichermaßen an „Saw“ und „Clerks“ erinnert. Mit „Vulcanizadora“ schreibt Potrykus so nicht nur die Geschichte dieser Figuren fort, sondern inszeniert geradezu ein Requiem für ein Kino der Hänger und Versager, das er mit seinen Filmen seit über zwei Jahrzehnten maßgeblich mit geprägt hat.

Tipp Nr. 3: Die epische Geschichte einer Geige

Auch die kanadische Regisseurin Sofia Bohdanowicz blickt mit ihrem neuen Film Measures For A Funeral in ihr eigenes Schaffen zurück und setzt einen Schlusspunkt: Seit 2016 dreht sie mit der von Deragh Campbell gespielten Audrey als verbindende Figur Filme unterschiedlicher Länge, die halb als Archivarbeit, halb fiktional den Spuren ihrer eigenen, weit verzweigten Familie nachspüren. Die Anwesenheit der Toten und Verschwindenden liegt über dem Leben der Übriggebliebenen: Zu Beginn des Films möchte Audreys im Sterben begriffene Mutter, dass eine Geige ihres verstorbenen Mannes verbrannt und zusammen mit ihrer eigenen Asche verstreut wird.

Mit dem Instrument im Gepäck reist Audrey von Montreal nach London und Oslo auf der Suche nach jemand anderem: Der im frühen 20. Jahrhundert weltbekannten Geigerin Kathleen Parlow, die einstmals in der New Yorker Met für die Überlebenden des Schiffsunglücks der „Titanic“ gespielt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist sie trotzdem noch zu Lebzeiten in Vergessenheit geraten, obwohl sie bis zu ihrem Lebensende obsessiv übte und spielte. In späten Jahren war die Virtuosin zuletzt die Musiklehrerin von Audreys Großvater.

Menschen sollte die Freiheit gelassen werden, ihren Passionen ohne Schuldgefühle folgen zu können, sagt eine Freundin zu Audrey, die sich in ihre verwinkelte Recherchereise vergräbt, weil sie dem nahenden Tod ihrer Mutter entkommen möchte. Ein orchestrales Stück, das einstmals für Parlow geschrieben wurde und fast ein Jahrhundert lang als verschollen galt, holt Audrey wieder in die Gegenwart: Mit einer großen ausladenden Geste, die in eine geradezu epische Konzertaufführung mündet, macht „Measures For Funeral“ das seh- und hörbar, was scheinbar unwiederbringlich verschwunden war und auch das, was bald für immer verschwinden wird.

Die Woche der Kritik findet vom 12. – 20. Februar 2025 im Hackesche Höfe Kino in Berlin statt. Karten kann man auf der Website des Festivals kaufen.

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