Schon die Eröffnungssequenz im Serienkiller-Thriller „Tattoo“ liefert den ersten großen Gänsehautmoment: Eine verängstigte nackte Frau irrt nachts über die Straßen Berlins – und als die Kamera ihren Rücken einfängt, bietet sich uns ein blutiges Bild des Grauens. Ein Unbekannter hat ihr die Haut abgerissen. Die Frau rennt auf eine Kreuzung und wird prompt von einem Linienbus überfahren, der daraufhin crasht und in Flammen aufgeht.
So explosiv startet der bemerkenswerte Erstlings-Kinofilm des deutschen Regisseurs und Drehbuchautors Robert Schwentke („Der Hauptmann“), der auch in der Folge keine Gefangenen macht. Sein ebenso spannender wie finsterer Thriller, den ihr aktuell auf Netflix streamen könnt, muss den Vergleich mit Hollywood-Produktionen nicht scheuen und setzt eigene Akzente, statt bloß bei den Vorbildern abzukupfern.
Darum geht es in "Tattoo"
Polizeischul-Absolvent Marc Schrader (August Diehl) hat mit Ach und Krach die Abschlussprüfung bestanden. Nun freut er sich auf einen ruhigen Job in der EDV-Abteilung der Polizei, doch es kommt anders: Nach einer Razzia in einem Club, in dem Schrader nebenbei Drogen vertickt, nimmt ihn der erfahrene Kommissar Minks (Christian Redl) unter seine Fittiche bei der Mordkommission. Minks braucht jemanden an seiner Seite, der sich im Drogen- und Rotlichtmilieu auskennt.
Denn sein aktueller Fall hat es in sich: Nach den Funden mehrerer grausam entstellter Leichen finden die Ermittler heraus, dass in Berlin ein Serientäter sein Unwesen treibt, der es auf großflächige Tattoos abgesehen hat. Er zieht seinen Opfern lebendigen Leibes die Haut ab, tötet sie und verkauft die tätowierten Hautstücke an zahlungskräftige Sammler…
Auf den Spuren von "Sieben"
Dass „Tattoo nach seinem Erscheinen im Jahr 2002 mit dem damals sieben Jahre alten Meisterwerk „Sieben“ von David Fincher verglichen wurde, kommt nicht von ungefähr: Die Thriller ähneln sich nicht nur im Hinblick auf ihre Figurenkonstellation und die Handlung. Beide Filme durchzieht auch eine unheimlich trostlose, stellenweise morbide Atmosphäre. Viele der düsteren Sequenzen spielen nachts oder in dunklen Innenräumen. Draußen schüttet es aus Kübeln.
Als Grundstimmung des Thrillers nennt unsere FILMSTARTS-Kritik „die Verlorenheit des Individuums in einer lichtlosen, menschen- und lebensfeindlichen Welt“. In dieser Welt muss der anfangs desinteressierte, bisweilen naive Schrader bestehen – ob es ihm passt oder nicht. Der starke Jungschauspieler August Diehl, damals schon erfolgreicher Theatermime, gibt einen lernwilligen, auffallend bleichen Nachwuchs-Cop, der trotz seiner Eskapaden und Fehler schnell zur Identifikationsfigur reift.
Ihm zur Seite steht der wetterfeste, durch nichts zu schockende Minks – tough und charismatisch dargestellt von Christian Redl, der hier eine seiner viel zu seltenen Hauptrollen in deutschen Kinoproduktionen stemmt. Eine zwar klassische, aber doch reizvolle Ermittlerkombination, die durch einen Alleingang Schraders und die Begegnung mit Minks‘ Tochter Marie (Jasmin Schwiers) zusätzlich an Brisanz gewinnt.
Ein wenig flach bleibt allein die Femme Fatale: Die undurchsichtige Kunstsammlerin Maya Kroner (Nadeshda Brennicke) geizt zwar nicht mit nackter Haut und dem Einsatz ihrer weiblichen Reize, bleibt uns aber bis zum Schluss ein wenig fremd. Auch durch Mayas Manöver bleibt das Geschehen aber über weite Strecken unberechenbar.
Hochspannung statt Einheitsbrei
Mit Blick auf die steile Spannungskurve liegt „Tattoo“ ebenfalls weit über dem Niveau der austauschbaren 08/15-Fernsehkrimis, die hierzulande massenhaft entstehen – daran ändert die etwas vorhersehbare Auflösung wenig. Parallelen zur populärsten deutschen Krimireihe gibt es trotzdem: Ingo Naujoks, der einst den Mitbewohner von „Tatort“-Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) mimte, ist als tätowierter Junkie zu sehen. Und der aus dem Kölner „Tatort“ bekannte Joe Bausch mimt einen Auftragskiller mit spektakulärem Abgang.
Auch über die erstklassige Regie und das mit pfiffigen Wendungen gespickte Drehbuch hinaus spielt der gut gealterte Serienkiller-Thriller handwerklich vorne mit: Kameramann Jan Fehse liefert einige starke Einstellungen (etwa eine in Vogelperspektive eingefangene Partycrowd) und der stimmungsvolle Soundtrack veredelt die triste Grundatmosphäre. Einen soliden Magen sollte man allerdings mitbringen: Zu den ekligsten Szenen zählt sicherlich jene, in der die Ermittler ein aus blutigen Hautfetzen geschneiderter Umschlag erreicht…
Streaming-Tipp: Dieser eisige Survival-Thriller könnte auch ein Prequel zu "John Wick" sein!Dies ist eine aktualisierte Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.