Einige Jahre sind inzwischen seit dem Mystery-Horror „A Cure For Wellness“ von „Ring“-Regisseur Gore Verbinski vergangen. Genügend Zeit, um gewisse Entzugserscheinungen zu entwickeln. Entsprechend ausgehungert habe ich mich auf David Priors „The Empty Man“ gestürzt, als der US-Kritiker Rob Hunter auf Twitter erklärte, dieser Film würde sich für ihn „wie ein verschollener Gore-Verbinski-Film“ anfühlen. Besser kann man mich kaum scharf machen auf einen Film!
Und was soll ich sagen? Hunter hat den Nagel auf den Kopf getroffen: „The Empty Man“ vereint die zügellosen Ambition des genialen „A Cure For Wellness“ mit der Grundspannung von „Ring“! Insofern ist „The Empty Man“ sicherlich schon mal direkt wie für mich gemacht. Aber der Film ist zugleich noch so viel mehr – und deshalb war eigentlich auch immer klar, dass er im Kino eigentlich floppen musste, bevor er dann im Heimkino als verkannter Klassiker wiederentdeckt werden kann.
Wenn ihr Disney+ abonniert habt, könnt ihr ohne zusätzliche Kosten mal reinschauen, ob „The Empty Man“ womöglich auch etwas für euch ist:
Mit satten 137 Minuten ist „The Empty Man“ wahrlich kein Laufzeit-Leichtgewicht. Dabei schaffen es selbst namhafte Regisseure selten, Horror mit Überlänge zum Kinoerfolg zu peitschen, wie soll es da also einem Debütanten gelingen?
Noch dazu einem, der ein Skript verantwortet, in dem die Comicvorlage zu „The Empty Man“ kaum noch wiederzuerkennen ist - womit er willentlich all jene verprellt, die dem Film allein aufgrund Vorlage eine Chance gegeben hätten…
Ein fantastischer Kurzfilm – und dann geht’s einfach immer weiter
Der inszenatorische Schneid hinter „The Empty Man“ offenbart sich direkt zu Beginn: David Prior eröffnet seinen Film mit einem immens atmosphärischen Cold Open über eine Gruppe befreundeter Wanderer im Himalaya. Innerhalb von rund 20 Minuten lernen wir die Gruppendynamik kennen und werden vom morbiden Geheimnis um ein sonderbares Skelett, das absolut das Potential hat, ein ikonisches Bild des modernen Horrorkinos zu werden, regelrecht mitgerissen.
All das entfaltet sich ästhetisch ebenso wunderschön wie desorientierend: Kameramann Anastas N. Michos („The First Purge“) fängt die verschneite, eisige Gebirgslandschaft in klaren Bildern ein, die jedoch häufig frei von Tiefenwirkung sind. Schnell verschwindet jegliches Gefühl für Distanzen und Größenverhältnisse, was eine subtile, nicht abzuschüttelnde Beklommenheit auslöst.
Und das ist nur der Anfang...
Nach einem unheimlichen Vorkommnis stoßen zudem ungemütlich nah an die Figuren heranrückende Close Ups zur inszenatorischen Sprache des Films hinzu – und ein ätzendes, klackerndes Getuschel, das immer wieder durch das Geschehen raunt. Sind es abstoßende Geheimnisse, die ausgeplaudert werden, sind es unschöne Erinnerungen, die durch die Köpfe spuken, oder ist es das Heraufbeschwören eines Monstrums? Spannung macht sich breit und löst sich ebenso schlagartig wie drastisch wieder auf.
Da, wo andere Filme in den zweiten Akt übergehen würden, kappt Prior einfach die bisherige Story mit einem radikalen Ende ab und setzt ganz woanders wieder an...
Durch Horror-Subgenres geschlichen
Erst dann beginnt der eigentliche Film. Noch ganz benommen stolpern wir in den Alltag des einsamen, von Kummer zerfressenen Ex-Detectives James Lasombra („The Pacific“-Star James Badge Dale). Der wird von einer Nachbarin gebeten, im Vermisstenfall ihrer Tochter zu ermitteln. Alsbald erfährt James von den Schauergeschichten der örtlichen Teenager, die sich als Mutprobe gegenseitig herausfordern, den Empty Man anzurufen…
In der Nacherzählung klingt das jetzt vielleicht gewöhnlich: Erst ein Freunde-allein-in-der-Abgeschiedenheit-Hüttenhorror, dann eine Teenager-Monstermär, wie sie auch schon in „Slender Man“ oder „The Bye Bye Man“ vergeigt wurde. Aber wie eingangs erwähnt: David Prior gibt sich nicht mit dem Gewöhnlichen zufrieden. Allein schon die Verbindung dieser Elemente verleiht „The Empty Man“ einen gewissen Reiz. Und mit soghafter Wirkung erwächst sich daraus eine zunehmend immer eigenwilligere Erzählung.
Wann immer der Anschein entsteht, „The Empty Man“ habe es sich in einem Horror-Subgenre heimisch gemacht, nimmt Prior mit hypnotisch-beunruhigender Gemütlichkeit eine Abzweigung. Dort warten mal fesselnde Suspense-Setpieces, mal neue Figuren mit einnehmender Persönlichkeit – aber stets Versatzstücke weiterer Horror-Subgenres.
Klang- und Bildwelten verschwimmen
Nicht nur, dass David Prior schon in seinem Debüt das stattliche Selbstbewusstsein hat, uns mehrmals minutenlang in Anspannung verharren zu lassen, ohne die Erlösung durch einen klaren Schrecken zu bieten, wodurch sich dieser Schauer immer weiter verschleppt - um dann richtig zu zünden...
Mit ähnlicher Ausdauer enthüllt er auch erst ganz langsam die Signifikanz des Prologs – und auch die unsere Tiefenwahrnehmung verfremdende Bildsprache offenbart sukzessive ihren Daseinsgrund: Die Mythologie des Empty Man ist ganz eng mit Brücken verknüpft, und die verschworene Gesellschaft, der James nachspürt, glaubt, dass sich die Distanz zwischen Welten und Wahrnehmungsebenen verwischen ließe.
Es ist nur konsequent, dies durch das irritierende Überbetonen und Komprimieren von Abständen in die Inszenierung zu übertrage. Zudem gibt es einprägsam konstruierte Szenenübergänge sowie etliche Dopplungen und albtraumhafte Ellipsen. So fühlt man sich im Film die ganze Zeit wie auf der klapprigen Hängebrücke zu Beginn im Himalaya.
Für mich einer der besten Filme 2021
Unterstrichen wird dies durch eine immer kränklicher anmutende Farbästhetik sowie die an den Rändern verkrümmten und verwaschenen, anamorph gefilmten Cinemascope-Bilder. Dazu wabert der pulsierende Score von Christopher Young („Drag Me to Hell“) und Lustmord („First Reformed“), der vor allem aus Lärm, Synths, Geheul und Geknurre besteht.
Es ist die zerrissene Klangwelt, die dieser Film verdient. Denn je monumentaler und weltumspannender die eingangs so lokal wirkende Teenager-Schauergeschichte gerät, desto subjektiver und eingeengter wird „The Empty Man“ erzählt. Wir haften mehr und mehr an James' Fersen, tauchen unbemerkt, doch wirkungsvoll in seine Wahrnehmung ein, bis die Erzählperspektive schließlich vollkommen verzerrt ist.
So nimmt uns David Prior sämtlichen Halt: Egal, ob es die Bedrohungen von außen sind (wie der Verschwörungskult), oder doch die Ängste aus einem selbst heraus (wie der Psychoterror-Aspekt, dass James sämtlichen Halt verliert) – eines dieser beiden Grauen wird wahrscheinlich auch euch kriegen...
Und wenn nicht: Schaut doch einfach mal in unsere Liste der besten Horrorfilme aller Zeiten rein, da werdet ihr ganz bestimmt fündig:
Die besten Horrorfilme aller ZeitenDies ist eine Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.
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