Bei der Oscarverleihung 2020 war „Corpus Christi“ chancenlos gegen den Siegeszug von Bong Joon-hos „Parasite“. Und auch sonst ging die ganz große Aufmerksamkeit am damaligen polnischen Beitrag „Corpus Christi“ trotz zahlreicher weiterer europäischer Filmpreise vorbei. Das Provinzdrama von Regisseur Jan Komasa setzt mal tiefschürfend, mal mit humoristischer Leichtigkeit auf Fragen nach Glauben, Nächstenliebe und Erlösung, sowie einen überragenden Hauptdarsteller – und sollte deshalb unbedingt gesehen werden!
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„Corpus Christi“ ist die freie Interpretation der wahren Geschichte eines jungen Häftlings, der monatelang unerkannt als falscher Pfarrer in einer kleinen polnischen Gemeinde wirkte. Drehbuchautor Mateusz Pacewicz kam die Idee für den Film, als er einen Zeitungsartikel über den Vorfall schrieb.
Vom Saulus zum Paulus
Umgeben vom brutalen Alltag im Jugendknast findet der 20-Jährige Daniel (herausragend verkörpert von Bartosz Bielenia) Erfüllung in seiner Rolle als Messdiener des Gefängnispfarrers. Doch die Tür zum Priesterseminar bleibt ihm wegen seiner kriminellen Vorgeschichte verschlossen. Ein Priestergewand lässt er bei seiner Entlassung dennoch mitgehen.
Von der Aussicht, in einem abgelegenen Sägewerk zu enden, wo die straffälligen Jugendlichen durch Plackerei resozialisiert werden sollen, ist Daniel überhaupt nicht begeistert und so flüchtet er sich kurz nach seiner Ankunft in die Kirche der naheliegenden Gemeinde. Und da Kleider bekanntlich Leute machen, wird aus dem frisch entlassenen Kriminellen Daniel der Priesteranwärter Pater Tomasz und die Dorfbewohner*innen kaufen ihm seine Rolle ab.
In seinen Gottesdiensten gewinnt er ihre Herzen schnell für sich, auch wenn er sich dafür mithilfe des Internets etwas bibelfester erscheinen lässt, als er eigentlich ist. Denn Daniel hat Talent als Pfarrer. Er nimmt den Dörflern die Beichte ab, führt Taufen und Sterbebegleitungen durch und baut einen guten Draht zur Dorfjugend auf.
Doch die Scharade bröckelt, als Daniel mit Hilfe der aufmüpfigen Marta (Eliza Rycembel) beginnt, eine noch nicht lange zurückliegende Tragödie aufzuarbeiten, deren Umstände im Ort in Schweigen gehüllt werden. Durch seine unkonventionellen Methoden bringt er die Autoritäten gegen sich auf und wird bald auch von seiner eigenen gewaltvollen Vergangenheit eingeholt, sodass sich bald alle den Fragen nach Schuld und Absolution stellen müssen.
Kluges Gesellschaftsportrait und bewegendes Schauspielerkino
Bielina schultert diesen Film im Alleingang und wächst in seiner Darstellung des schuldbeladenen, charismatischen und schlitzohrigen Priesters über sich hinaus. Trägt er sein Gewand, scheint er ganz bei sich und seiner Rolle als Pater Tomasz zu sein. Doch darunter schlummert noch immer Daniel, der verurteilte Straftäter. Diese Ambivalenz ist dem jungen Darsteller auf eine solch fesselnde Art ins Gesicht geschrieben, dass auch ich nicht anders konnte, als ihm an den Lippen zu hängen.
Auch wenn hier erzählerisch mit bekannten Versatzstücken einer typischen Hochstaplergeschichte gearbeitet wird und sichere Fahrwasser selten verlassen werden, bleibt „Corpus Christi“ dennoch konsequent in seinem hoffnungsvollen Grundton und in den richtigen Augenblicken visuell stilsicher. So wird aus dem Film so viel mehr als nur ein klassisches Verwechslungsdrama.
Ob und wieweit man auf seiner Suche nach Identität aus der eigenen Haut kann und welche Konsequenzen das eigene Handeln hat, bleiben die Kernfragen des Films, der sich ebenfalls um Generationenkonflikte, Traumabewältigung und die politische Rolle der katholischen Kirche in Polen dreht. Regisseur Jan Komasa gelingt es bravourös, seinen Film mit diesen Themen nicht zu überfrachten und seine Geschichte erzählerisch gekonnt in ein Finale zu überführen, das lange nachhallt.
„Corpus Christi“ trumpft mit tollen Darsteller*innen sowie einer reifen und zutiefst menschlichen Haltung auf und sei hiermit allen mit Prime-Video-Abo ans Herz gelegt.