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    Krasser als jeder Horrorfilm: Echte Leichen und Innereien treiben Publikum massenweise aus dem Kinosaal
    Michael Bendix
    Michael Bendix
    -Redakteur
    Ob psychologischer Horror, Slasher-Film oder obskures Kleinod: Michael liebt das Horrorkino, seit er nach dem Schauen von „Blair Witch Projekt“ eine halbe Stunde lang wie versteinert auf dem Sofa saß.

    Der extremste Horrorfilm des Jahres 2022 war gar keiner – trotzdem flohen bei der Premiere von „De Humani Corporis Fabrica“ zahlreiche Menschen aus dem Kinosaal. Wir verraten euch, was es mit dem Film auf sich hat – und wo ihr ihn sehen könnt.

    Beim Genre „Body-Horror“ denken wir vor allem an David Cronenberg, an Filme wie „Die Fliege“ (1986) oder zuletzt „Crimes Of The Future“ (2022), die ihren Schrecken nicht zuletzt aus der krankhaften Veränderung oder Manipulation des menschlichen Körpers beziehen. Doch könnten wir sehen, wie es – buchstäblich gemeint – in unserem Inneren aussieht, dann wäre das allein Body-Horror genug: Nicht umsonst können viele den Anblick von Blut nicht ertragen – immerhin die Flüssigkeit, die uns am Leben hält.

    Kein Film hat sein Publikum damit in den letzten Jahren so schonungslos konfrontiert wie „De Humani Corporis Fabrica“ (zu Deutsch in etwa: „Die Fabrik des menschlichen Körpers“) – und damit nicht etwa ein Horror-, sondern ein Dokumentarfilm! Trotzdem (oder eher: gerade deswegen) ist der Film eine echte Mutprobe...

    "De Humani Corporis Fabrica" nimmt uns mit an einen Ort, an dem Body-Horror zum Alltag gehört

    Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel haben einige der radikalsten Dokumentarfilme der letzten Jahre gedreht. „Leviathan“ (2012) – ein Film über die nordamerikanische Fischerei-Industrie – war ein audiovisuelles Erlebnis, das bis dahin nie gesehene Bilder bot, in „Caniba“ (2017) ließen die Filmemacher*innen den japanischen Frauenmörder und Kannibalen Issei Sagawa von seinen Taten berichten (und rückten mit der Kamera millimeternah an sein Gesicht und seinen Körper heran). „De Humani Corporis Fabrica“ ist ihr jüngstes Werk – und nimmt uns mit an einen Ort, an dem der Body-Horror zum Alltag gehört: das Krankenhaus.

    „De Humani Corporis Fabrica“ schildert den Arbeitsalltag in einem Pariser Hospital, und der besteht natürlich zu nicht geringen Teilen aus Krankheit, Leid und Operationen. Castaing-Taylor und Paravel gehen dabei dorthin, wo es wehtut – und zwingen ihre Zuschauer*innen förmlich, sich mit ihrem eigenen Körper und Dasein auseinanderzusetzen.

    Wer sich traut, kann „De Humani Corporis Fabrica“ im Stream sehen. Den Film gibt es exklusiv im Programm des Streaming-Dienstes MUBI, der übrigens auch als Prime-Video-Channel verfügbar ist:

    Bilder, die wir sonst nie zu sehen bekommen

    Der Film gibt uns im doppelten Sinne Einblicke, die uns sonst verborgen bleiben: Zum einen sehen, mehr aber noch: hören wir die Ärzt*innen und Operateur*innen, während sie menschliche Körper aufschneiden, in ihnen herumwühlen und sie wieder zunähen. Und bekommen all das mit, was uns im narkotisierten Zustand normalerweise nicht erreicht: Die Mediziner*innen machen Witze, begegnen ihrer prekären Arbeitsrealität mit Wut und Galgenhumor, unterhalten sich über Privates oder kommentieren auch mal den Körper, der da offen und ungeschützt vor ihnen liegt.

    Das ist so erhellend wie verstörend! Gleichzeitig kann man nur bewundern, was die Krankenhaus-Mitarbeiter*innen da jeden Tag an Präzisionsarbeit leisten, bei der keine Maschine jemals mithalten könnte. Zum anderen sehen wir Körper – die der Patient*innen, damit aber irgendwie auch unsere eigenen.

    Mithilfe endoskopischer Kameras dringen wir in Körperwelten vor, die manchmal schön, immer wieder verblüffend und oft auch unerträglich anzusehen sind. Wir sehen eine Wirbelsäulen-Infusion, wohnen einer Kaiserschnittgeburt bei, werden Zeuge einer Prostata-Operation (inklusive der Einführung eines Katheters durch die Harnröhre), und wenn eine neue Linse in ein Auge eingesetzt wird, sehen wir das über Minuten in einer das gesamte Bild ausfüllenden Großaufnahme.

    Echter Sex und krasse Gewalt: Dieser FSK-18-Thriller stand vor Kurzem noch auf dem Index ‒ jetzt erscheint er uncut fürs Heimkino!

    „De Humani Corporis Fabrica“ zeigt von der Blase bis zur Leber alle möglichen inneren Organe, und es ist kaum vorstellbar, wie sich ein Mensch darin zurechtfinden kann. Selbst einer der Operateure verliert an einer Stelle den Überblick: „Das wird mir jetzt ein bisschen zu abstrakt!“ Auch den Anblick eines herausgeschnittenen Brust-Tumores erparen uns Castaing-Taylor und Paravel nicht, genauso wenig wie den von nebeneinander aufgereihten Leichen im Obduktionssaal. Bei seiner Premiere in Cannes war das einigen Zuschauer*innen zu viel: Zahlreiche Zuschauer*innen verließen den Saal lange vor Ende des Films.

    Das ist verständlich, und doch ist „De Humani Corporis Fabrica“ ein außergewöhnliches Filmerlebnis, bei dem es sich lohnt, bis zum Schluss hinzuschauen. Denn nur wenige Filme kommen dem Menschsein so nah, seiner Zerbrechlichkeit, aber auch seiner Widerstandsfähigkeit, und nur wenige Filme sind dazu in der Lage, unseren Blick derart existenziell zu weiten – auch wenn wir uns dafür erst einmal durch literweise Blut und Schichten von Innereien kämpfen müssen.

    Nicht nur die versehrten Körper, auch das Krankenhaus erscheint in „De Humani Corporis Fabrica“ als fragiler Organismus (so tief die Kameras auch in die hintersten Ecken des menschlichen Körpers vordringt, so wenig verliert der Film das große Ganze, die sozioökonomischen Umstände aus dem Blick), und in manchen Momenten ist der Film auch einfach nur hochgradig faszinierendes Experimentalkino, wenn mikroskopisch vergrößerte Zellproben die wundersamsten Farben und Formen annehmen.

    Dieser Horrorfilm ist sogar für Stephen King zu krass – er konnte ihn nicht mal zu Ende schauen!

    Dies ist eine aktualisierte Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.

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