In „Silent Night – Stumme Rache“ (ab 14. Dezember 2023 im Kino) spielt Joel Kinnaman Familienvater Brian Godlock, der hilflos mit ansehen muss, wie sein kleiner Sohn an Weihnachten von den umherirrenden Kugeln bei einer Gangauseinandersetzung getötet wird. Der nach einem Schuss in den Kehlkopf selbst schwer verletzte und der Fähigkeit zu sprechen beraubte Godlock kennt daraufhin nur noch ein Ziel: Rache! Ein Jahr bereitet er sich vor, um am nächsten Weihnachten gegen die Gangs zu Felde zu ziehen.
Auch wenn „Silent Night“ seine Schwächen hat, beweist John Woo in einer Reihe starker Actionszenen, dass er es noch drauf hat und nicht umsonst einer der größten Genre-Regisseure der Geschichte ist. Mittlerweile ist John Woo 77 Jahre alt, in Hollywood hat er seit 20 Jahren und der Sci-Fi-Enttäuschung „Paycheck“ nicht mehr gearbeitet. Als wir ihn zum Interview in einem Hotel in Los Angeles treffen, sieht man: Er ist sichtlich älter geworden, braucht einen Gehstock. Seine Worte wählt er zunächst auch sehr bedächtig, spricht die ersten Worte langsam. Doch schnell spürt man, dass in ihm das Feuer weiter lodert. Mit Begeisterung und immer mehr Gesten führt er aus, was „Silent Night“ in seinen Augen so besonders macht und mit welchen Ideen er das „clevere“ Drehbuch noch verbessert hat.
Im Interview verrät er uns auch, warum er seinen Action-Stil für „Silent Night“ verändert hat und sein neuer Film mehr an „John Wick“ als an frühere Heroic-Bloodshed-Meisterwerke wie „The Killer“ „A Better Tomorrow“ oder „Hard Boiled“ erinnert. Apropos „The Killer“: Über das Remake davon reden wir natürlich auch...
Endlich wieder ein Drehbuch, das John Woo begeistert hat
FILMSTARTS: Herr Woo, ihr letzter Hollywood-Film ist 20 Jahre her. Sie haben in dieser Zeit viel in ihrer Heimat gedreht – ein Epos wie „Red Cliff“ gemacht, ich bin großer Fan ihres Films „Manhunt“. Aber warum hat es sie jetzt noch einmal gejuckt, mit „Silent Night“ nach Hollywood zurückzukehren?
John Woo: Nachdem ich „Paycheck“ gedreht habe, war ich ein bisschen frustriert. Denn es gab in den USA einfach keine guten Drehbücher mehr für mich. Dann fragten mich ein paar chinesische Produzenten, ob ich ihnen nicht helfen könne. Chinesische Filme hatten damals noch keinen weltweiten Markt. Sie wollten, dass ich einen Film für sie mache, der weltweit ein Publikum erreichen konnte. Also ging ich zurück nach China.
Ich habe „Red Cliff“, ich habe „The Crossing“ gemacht, ich habe einige chinesische Filme gedreht. Ein paar davon waren ziemlich gut, einige waren auch schlecht. Aber ich wollte die ganze Zeit unbedingt einmal etwas Kleineres machen. Seit ich als bekannter Filmregisseur etabliert bin, bekomme ich immer nur große Actionfilme angeboten, doch ich war auf der Suche nach einer menschlicheren Geschichte. Als ich dann das Drehbuch zu „Silent Night“ bekam, war ich begeistert, denn es ist wirklich anders als alles, was ich vorher gemacht habe. Und dann war das Drehbuch auch noch so clever – ein ganzes Skript ohne einen Dialog!
Das hat mich direkt gereizt, denn es hat die Herausforderung erhöht. Ich kann nur Bilder und den Sound nutzen, um eine Geschichte zu erzählen. Davon war ich wirklich sofort begeistert.
FILMSTARTS: Wenn wir schon über das Drehbuch sprechen. Sie haben bei ihren großen Klassikern ja bekanntlich sogar auch mal komplett ohne vorher existierendes Skript gedreht und alles am Set entwickelt. Wie war es dieses Mal mit dem bereits existierenden Drehbuch. Haben sie sich daran gehalten oder dann doch ihre eigenen Ideen eingebracht?
John Woo: Ich habe ein paar kleine Änderungen vorgenommen – vor allem bei der größten Actionszene. Der Ort, den wir für den Dreh gefunden haben, war ganz anders als der im Skript beschriebene Schauplatz, sodass Veränderungen notwendig waren. Aber die allergrößte Änderung ist am Ende des Films. Da gibt es eine Szene, in welcher Godlock angeschossen ist und auf die goldene Kugel schaut. In dieser spiegelt sich noch einmal die Geschichte seines Sohnes – von der Geburt bis zum Alter von fünf Jahren. Diese Szene war komplett meine Idee. Ich glaube, sie funktioniert sehr gut.
Neuer Stil für John Woo: Chaotische harte Kämpfe statt Eleganz
FILMSTARTS: Eine große Veränderung zu ihren früheren Filmen ist die Art, wie sie Action inszenieren. Das ist eindeutig nicht so poetisch, sondern viel mehr ziemlich rau und teilweise chaotisch. Warum haben sie diesen anderen Ansatz gewählt?
John Woo: Wir erzählen eine sehr tragische und traurige Geschichte eines unschuldigen Jungen, der von Gangstern ermordet wurde. Daher dachte ich mir, dass sich mein Film realistischer anfühlen müsse. Deshalb habe ich für die Actionszenen einen anderen Stil, eine andere Technik verwendet und sie dadurch anders gestaltet.
Früher sollten sich meine Actionszenen richtig groß anfühlen. Es konnten nicht genug Kugeln fliegen, nicht zu viele Schießereien und Explosionen geben. Das wollte ich reduzieren, es sollte sich immer echt anfühlen. Deswegen habe ich auch hier gerne einen langen Take ohne Schnitte verwendet. Auch das macht die Action realistischer und intensiver, lässt jeden Schlag und jeden Treffer echter aussehen, das Publikum die Wirkung spüren.
Ich habe meinen Stil aber nicht nur geändert, weil es für die Geschichte das Richtige, sondern auch für unsere Hauptfigur passender ist. Er ist kein Superheld, kein Superkämpfer, kein Profi-Killer. Er ist ein echter Mensch, ein gewöhnlicher Mann, der mit einer Wut im Bauch kämpft. Deswegen sollte die Action nicht zu übertrieben und extravagant sein.
FILMSTARTS: Die längeren Takes sowie der intensivere Ansatz haben mich an viele moderne Actionfilme wie die „John Wick“-Reihe erinnert. Es ist spannend, dass alle jüngeren Actionregisseur*innen bei ihren Einflüssen sofort sie nennen, ich aber nun den Eindruck habe, dass sie genauso von der neuen Generation beeinflusst werden. Stimmt das?
John Woo: Wir lernen alle voneinander. Ich habe mich zu Beginn meiner Karriere sehr stark von westlichen Filmen, aus Hollywood aber auch aus Europa und vor allem aus Frankreich inspirieren lassen. Ich habe mit diesen Werken gelernt, um meinen eigenen Stil zu finden und zu kreieren. Nun sehe ich, dass einige junge Filmemacher*innen von meinem Stil inspiriert sind. Das ist toll. Wir sind alle eine große Familie, alle Freunde. Wir teilen alle guten Ideen miteinander. Das finde ich sehr schön und es ehrt mich. Und wenn ich jemanden finde, der noch bessere Arbeit als ich macht, dann schaue ich da natürlich auch weiter hin, was ich lernen kann.
Jeder wollte einen besonders guten Job machen!
FILMSTARTS: Nun haben sie bereits die längeren Takes angesprochen. Die Actionszene im Treppenhaus hat mich beeindruckt. Wie schwierig war es diese so stark umzusetzen – gerade mit dem ja doch moderaten Budget und dem doch sicher sehr engen Zeitplan.
John Woo: Nur mit einem guten Team. Wir hatten einen wirklich guten Stunt-Koordinator und übrigens einige Stunt-Choreografen, die vorher bei „John Wick“ gearbeitet haben. Gemeinsam haben wir jede Actionszene schon vor Drehbeginn bis ins Detail geplant. Und sie haben sich viel Zeit genommen, um jedes Actionelement vorab immer wieder zu proben – und zwar gemeinsam mit unserem Hauptdarsteller. Joel [Kinnaman] hat sich da viel Zeit genommen und seine Kampfszenen geübt. Obwohl wir beim Dreh dann einen sehr engen Zeitplan hatten: Sobald sie gebraucht waren, sind sie gekommen und waren direkt bereit. Es hat sich ausgezahlt, dass jeder, der an diesem Film beteiligt war, ihn als große Herausforderung begriff, bei der er einen besonders guten Job machen wollte.
FILMSTARTS: Was waren denn die größten Herausforderungen beim Dreh so komplett ohne Dialoge?
John Woo: Wissen sie, eigentlich ist der Ansatz ohne Dialoge eine gute Sache für alle – besonders für die Schauspieler*innen. Das Publikum ist zudem auch viel konzentrierter dabei. Sie müssen mehr auf die Gesichter der Schauspieler*innen achten, um ihre Leistung zu sehen. Sie schauen unserer Hauptfigur immer direkt in die Augen. Es gibt quasi die ganze Zeit Blickkontakt. Das Publikum spürt so viel mehr von ihm.
Mit Joel [Kinnaman] und Catalina [Sandino Moreno] hatte ich zudem zwei großartige Stars, die ihre Augen benutzen können, um Dinge auszudrücken und uns ihre Emotionen spüren zu lassen. Die gute Kameraarbeit hat sie unterstützt. Und daneben ist die Musik sehr wichtig. Die Musik ist in diesem Film die viel bessere Sprache. Jede Szene hat Musik, welche die Emotionen für das Publikum aufbaut.
Ich habe zudem das Gefühl, dass viele Filme zu viel erklären. Dabei müssen wir manchmal gar nichts erklären. Wir sollten dem Publikum allgemein mehr Raum zum Denken und Fühlen lassen anstatt unsere Figuren dauernd so viel zu reden zu lassen.
FILMSTARTS: Dabei hängt dann aber sehr viel an ihrem Hauptdarsteller Joel Kinnaman. Wenn er nicht überzeugt, fällt der ganze Film. Wie kam es zu seiner Besetzung?
John Woo: Um ehrlich zu sein, kannte ich ihn vorher nicht wirklich und habe nicht viele seiner Filme gesehen. Ich kannte ihn nur aus einem englischen Film namens „Child 44“, wo er eine kleine Rolle hatte. Aber als ich ihn persönlich traf, fand ich direkt, dass er so echt aussieht. Er ist nicht der Typ Superheld oder Superkämpfer, sondern der Kerl aus der Nachbarschaft. Und unsere Figur ist auch so ein gewöhnlicher Mann, nicht übermenschlich. Er ist ein Kerl wie jeder andere auch. Und das passt sehr gut zu der Figur.
Als ich ihn getroffen habe, war ich deswegen direkt überzeugt, dass er sehr gut zu meiner Idee für diesen Film passt.
Neue Version von "The Killer" - für John Woo kein Remake!
FILMSTARTS: Eine kurze Frage zum Abschluss zu ihrem nächsten Projekt. Sie drehen gerade „The Killer“, ein Remake eines ihrer eigenen Hits. Was zieht sie jetzt zurück zu ihrem wohl größten Klassiker?
John Woo: Es gibt schon sehr lange Pläne dafür und ich wollte das eigentlich nicht selbst machen. Doch dann kam ein großartiger neuer Drehbuchautor an Bord und der hat eine Veränderung an der Hauptfigur vorgenommen: Der Killer ist nun eine Frau. Das hat mich fasziniert. Es ist nun das erste Mal, dass ich eine weibliche Heldin in Szene setze. Das ist sehr interessant. Und es gibt auch eine zweite große Änderung, die sich dieser Autor ausgedacht hat und die mich begeistert. Wir haben nun ein Happy-End.
Für mich ist es deswegen auch kein Remake. Die Geschichte ist nun ganz anders. Für mich ist es einfach ein neuer Film, den ich mache.
Während „The Killer“ aber noch Zukunftsmusik ist, könnt ihr John Woos neues Werk nun passend zur Vorweihnachtszeit in den Kinos sehen. „Silent Night – Stumme Rache“ startet am 14. Dezember 2023.