Basierend auf dem gleichnamigen Bestseller von Robert Seethaler, erzählt Regisseur Hans Steinbichler („Das Boot“) in seinem epischen Bergfilm „Ein ganzes Leben“ die titelgebende Lebensgeschichte von Andreas Egger, das sich einen Großteil des 20. Jahrhunderts hindurch in den österreichischen Alpen abspielt – zwei Weltkriege und den Bau der ersten Seilbahn inklusive.
Für uns liefert diese Romanverfilmung großes Kino – wuchtig, wahnsinnig und wahrhaftig. Eben alles, was ein ganzes Leben hervorbringen kann (mehr dazu in der 4-Sterne-FILMSTARTS-Kritik). Wir haben den Regisseur zum Interview in einem Berliner Hotel getroffen:
FILMSTARTS: Wer kam auf wen zu, um den Bestseller „Ein ganzes Leben“ fürs Kino zu verfilmen?
Hans Steinbichler: „Ein ganzes Leben“ ist für mich eine sehr persönliche Geschichte. Zum einen habe ich 2008 den allerersten Seethaler-Film gedreht. Da war Robert noch Schauspieler und hatte ein Drehbuch geschrieben, aus dem ich den Film „Die zweite Frau“ mit Monica Bleibtreu und Matthias Brandt machte. Schon damals fand ich Robert Seethaler und die Art seiner Figuren und Erzählung so außergewöhnlich. Dann kam „Ein ganzes Leben“ und da ich in der Schweiz als Sohn eines Bergjournalisten geboren wurde und schon mein ganzes Leben in den Alpen unterwegs bin, sah ich den Roman wie einen Blue-Print des Lebens, dass ich mit meinem Vater in all den Jahren im Gebirge sehen und beobachten konnte.
FILMSTARTS: Dein Vater fühlte sich mit den Bergen also auch sehr verbunden?
Hans Steinbichler: Im Film wird ja im Grunde genommen die Erschließung der Alpen gezeigt und auf sehr eindringliche Weise kommentiert. Es war eine Herzensangelegenheit meines Vaters, die Erschließung der Alpen zu verhindern, wo es nur geht, und vor den Konsequenzen zu warnen. Man hat beispielsweise festgestellt, dass der Permafrost in den Höhen ab ca. 2500 Metern nachlässt, und das lässt wiederum unsere Gebirge regelrecht zusammenkrachen. Das muss man sich mal vorstellen. Wir sind schon an dem Punkt, den der Film am Ende beschreibt. Wir müssen also jetzt nachdenken, wie wir weitermachen wollen.
FILMSTARTS: Wie hätte dein Vater auf deinen Film reagiert?
Hans Steinbichler: Ich hätte es mir so gewünscht, dass er diesen Film noch sehen könnte. Bedauerlicherweise ist er 2020 gestorben. Aber am Schluss des Films gibt es eine Widmung, die heißt: ‚Meinem Vater Hans Steinbichler gewidmet, der mir die Berge geschenkt hat.‘ Ich habe schon ein Vermächtnis darin gesehen, mich bei ihm zu bedanken. Das war mir als Teilaspekt dieser Verfilmung so wichtig, und ich habe daher alles reingenommen, was er mir in der Zeit über die Berge gelehrt hat. Den Zugang zu den Bergen, die Art, wie man sie „liest“ und besteigt und eben ihren Schutz. Das sind alles Themen, die „Ein ganzes Leben“ verhandelt.
„Ein ganzes Leben läuft ab sofort in den deutschen Kinos:
FILMSTARTS: Im Zentrum steht dennoch ein Mensch namens Andreas Egger. Inwieweit konntest du dich in ihm wiederfinden?
Hans Steinbichler: Andreas Egger in der Inszenierung lebendig werden zu lassen und zu sehen und zu begreifen, wie dieser Mensch die Welt und das Leben sieht, bedeutete mir natürlich zunächst sehr viel. Und selbstverständlich habe ich mich dabei erwischt, dass ich im Prinzip das komplette Gegenteil von Andreas Egger bin. Ich bin – leider - ein durch und durch heutiger Wettbewerbsmensch, der sich in Selbstoptimierungsspiralen begibt und damit komplett den Kampf unserer Gesellschaft annimmt: höher, weiter, schneller…
FILMSTARTS: Weil du das so willst?
Hans Steinbichler: Ich will jetzt nicht kokettieren. Natürlich streben wir, also meine Familie und ich, schon lange Zeit danach, das alles bewusst zurückzuschrauben. Weniger Wasserverbrauch, lieber Bahnfahren als Fliegen, möglichst kein Auto fahren. Das versuchen wir, das versuchen viele andere auch. Aber zu sehen, wie ein Mensch, der für alles, was unsere Gesellschaft ausmacht, gar keine Möglichkeiten hat und dazu Schicksalsschläge epischer Art erleidet, trotzdem zufrieden und glücklich ist mit dem, was er hat, hat mich schon sehr nachdenklich gemacht.
FILMSTARTS: Ist Andreas Egger am Ende denn wirklich zufrieden und glücklich?
Hans Steinbichler: Ich glaube, man sollte Glück und Zufriedenheit nicht verwechseln. Glück ist etwas Flüchtiges, das wir ständig suchen. Und wenn wir es erlangen, ist es schon wieder gewesen. Zufriedenheit hingegen ist ein Zustand, eine Haltung, zu dem was gerade ist. Es meint daher auch zumeist nicht Glück, sondern mit den Dingen, die einem geschenkt oder auch genommen wurden, einen Frieden, ein Gleichgewicht zu finden. Und dafür ist Andreas Eggers Weg durch sein Leben ein großes Beispiel.
FILMSTARTS: Dafür steht sicherlich auch die Bus-Szene kurz vor Ende?
Hans Steinbichler: Ja, der alte Egger steigt am Endes seines Leben in einen Bus und möchte mit diesem „...bis zur Endstation“ fahren. Ich denke, dass er in diesem einen Moment plötzlich so etwas wie Panik bekommt, er könnte in seinem Leben etwas versäumt haben. Er fährt also an diese Endstation und findet einen kalten, geteerten Parkplatz an einem der schönsten Gletscher Österreichs, der Pasterze unter dem Großglockner, der aber schon fast verschwunden ist. Er sieht noch einmal in die hohen Berge, das reine, unberührte Heiligtum, dreht sich dann um und verlässt den Ort. Er hat nichts versäumt.
FILMSTARTS: Was geht in Egger in diesem Moment vor?
Hans Steinbichler: Andreas Egger hat in diesem Moment auf dem Parkplatz verstanden, dass er mit dem, was er erlebt hat und wie es um ihn steht, zufrieden sein kann. Er hat kein Gefühl des Mangels, er ist mit sich im Reinen.
FILMSTARTS: Kommen wir noch einmal auf Robert Seethaler zu sprechen. Wie verlief die Zusammenarbeit mit ihm?
Hans Steinbichler: Robert hat lediglich sein Plazet gegeben: ‚Macht einfach, von mir wird es keine Kommentare und keine Einflussnahme dazu geben.‘ Das heißt, zwischen mir und ihm, obwohl wir schon vor langer Zeit „Die zweite Frau“ gemacht haben, gab es keine Kooperation bei diesem Projekt.
FILMSTARTS: Künstlerisch hattest du also freie Hand gehabt?
Hans Steinbichler: Die hatte ich, aber weil ich ihn so schätze, habe ich ihm tatsächlich vor Drehbeginn eine SMS geschrieben: ‚Robert, bitte sage mir, was für dich wichtig ist, sodass ich darauf noch reagieren kann.‘ Aber das hat er einfach auf sich beruhen lassen. Es war damit klar, dass es bei „Ein ganzes Leben“ keine Zusammenarbeit geben würde.
FILMSTARTS: Wie habt ihr die Drehorte ausgesucht?
Hans Steinbichler: Der ganze Film spielt in und um Matrei in Osttirol. Osttirol ist deshalb so besonders, weil es durch seine Lage lange von den Modernisierungs- und Erschließungsmaßnahmen abgeschnitten war. Erst der Felbertauerntunnel, der 1973 kam, hat diese Landschaft für den Fremdenverkehr zugänglich gemacht. Es gibt dort einen Bergführer, den Jean-Jacques Annaud damals für „Der Bär“ als Locationscout entdeckt hat: Leo Baumgartner, mit dem ich im Juni 2021 drei bis vier Tage einen Bereich von ca. 20 km um Matrei absuchte, in dem wir schließlich unsere Locations fanden.
FILMSTARTS: Du bist in der Schweiz geboren, aber kein Schweizer, richtig?
Hans Steinbichler: Richtig! Ich bin nur deshalb in der Schweiz geboren, weil meine Eltern ihren Lebensmittelpunkt in die Schweiz verlegten, um dort nach und nach die 4000er-Gipfel der Westalpen zu besteigen. Nach fünf Jahren sind wir aber zurück an den Chiemsee gezogen, und von dort hat mich mein Vater überall mit hingenommen. Ich musste einfach immer mit, und so habe ich über Jahrzehnte mit meinem Vater die Alpen kennengelernt.
FILMSTARTS: Dein Spielfilmdebüt „Hierankl“ spielte ja auch in Chiemgau?
Hans Steinbichler: Ja, genau dort, wo ich herkomme. All das, was man in „Hierankl“ sieht, sind die ersten Spuren und Wege, die ich dort als junger Erwachsener gegangen bin. Es sind Orte, Dinge und Ereignisse, die vollkommen „meines“ waren. Wir wohnen als Familie im Wechsel mit München noch immer in dem Haus, das einst mein Vater gebaut hatte.
FILMSTARTS: Genauso wie Andreas Egger bist auch du ein sehr verwurzelter Mensch?
Hans Steinbichler: Ja und nein. Als ich als Fünfjähriger aus der Schweiz in ein Chiemgauer Dorf kam, war ich der komplette Außenseiter. Dennoch haben mich die Berge und das Zusammensein mit meinem Vater total geprägt. Ich glaube, ich bin ein Bergmensch, also jemand, der sein Seelenheil in der Bergwelt findet. Da fühle ich mich zu Hause. Insofern konnte ich mich in „Ein ganzes Leben“ schon sehr finden, obwohl es gar nicht um mich geht. Aber es gibt viele Anknüpfungspunkte.
FILMSTARTS: Woran denkst du dabei?
Hans Steinbichler: Mein Vater kam aus einer bäuerlichen Familie mit sehr bescheidenen Verhältnissen. Als Ältester durfte er schon mal gar nicht eine Höhere Schule besuchen. Also ganz viel Entbehrungen, ganz viel Katholizismus, auch ich war Ministrant. Diese Welt von Egger konnte ich daher sehr gut verstehen. Hinzu kommt, dass auch ich anfangs eben ein Außenseiter war – nicht als Waisenkind, aber in einem bayrischen Dorf in dieser Rolle zu stecken, war kein Zuckerschlecken.
Heimatfilm Vs. Bergfilm
FILMSTARTS: Wie empfindest du es, „Ein ganzes Leben“ als Heimatfilm zu bezeichnen?
Hans Steinbichler: Ich würde ihn lieber als Bergfilm bezeichnen, wenngleich die Tradition, die wir in Deutschland mit dem Bergfilm haben, sowohl kompliziert als auch großartig ist. Arnold Fanck, ein Regisseur aus den Dreißigern und Vierzigern, hat in den Bergen und am Gletscher Sachen gedreht, die großartig und stilbildend waren. Äußerst problematisch war in dieser Zeit, dass der Bergfilm ideologisch von den Nationalsozialisten gekapert und missbraucht wurde. Auch dieses ideologische Bild hatte man noch im Kopf, als der Heimatfilm-Kitsch in den Fünfzigern und Sechzigern entstand.
FILMSTARTS: Der Begriff Heimatfilm gefällt dir deshalb nicht?
Hans Steinbichler: Das macht alles ein bisschen „klein“. Ich fand bei „Hierankl“ die Einordnung gut, dass dieser Film ein ‚Neuer Heimatfilm‘ wäre. Ich wollte damals erzählen, dass die Schönheit der Berge komplett kontrastiert mit der Art, wie die Leute sich zueinander verhalten. Wenn man sich „Ein ganzes Leben“ genau ansieht, muss man doch nachdenklich werden, wenn der Bauer den Waisenknaben Andreas Egger misshandelt. Was muss diesen Menschen als Kind widerfahren sein, dass sie so brutal agieren und diese Welt um sich herum nicht als Geschenk wahrnehmen.
Wenn ihr Hans Steinbichler einmal bei der Arbeit am Set sehen wollt, gibt es hier auch noch ein Making-of-Video von den alpinen Dreharbeiten für euch:
FILMSTARTS: „Ein ganzes Leben“ ist ja als Gewinner unserer Aktion „Deutsches Kino ist [doch] geil!“, in der wir jeden Monat einen deutschen Film – egal welcher Größe – redaktionell wie einen Blockbuster behandeln. Was könnte man deiner Meinung nach noch tun, damit das deutsche Kino hierzulande wieder so geschätzt oder gar gefeiert wird, wie es das in vielen Fällen auch einfach verdient hat?
Hans Steinbichler: Das ist ja unglaublich! Wir sind natürlich total stolz darauf, Film des Monats zu sein. Ich glaube tatsächlich, dass es in Deutschland wichtig wäre, zu lernen, talentierte Schauspieler und Filmschaffende so zu pflegen, wie das auch in Frankreich, Großbritannien und Amerika gemacht wird, die ja dann auch echte Stars hervorbringen. Zudem sollte man in der Filmkritik den Leuten viel öfter die Hand reichen: ‚Schau mal, ich habe den Film gesehen. Ich beschreibe ihn dir und gebe dir etwas an die Hand, anstatt persönlich zu werden.‘ Das ist ein bisschen mein Gefühl, dass wir in Deutschland ein Platzhirsch-Kritiker-Problem haben. Am wichtigsten aber wäre ein Mentalitätswandel in Bezug auf das Kino an sich.
FILMSTARTS: Was meinst du mit Mentalitätswandel?
Hans Steinbichler: Die Mentalität in Deutschland ist, dass wir keine echte Kinokultur entwickelt haben. Das unterscheidet uns zum Beispiel von Frankreich, wo Kino ein Kulturgut ist, während es in Deutschland eben hauptsächlich ein Produkt ist. Diesen Schritt müssen wir in den nächsten Jahren gemeinsam mit dem Publikum gehen.
FILMSTARTS: „Barbie“ und „Oppenheimer“ haben ja gezeigt, dass Kinofilme vom gegenseitigen Erfolg profitieren können. Die Leute haben wieder Bock aufs Kino. Welchen aktuellen deutschen Kinofilm sollten Sie sich also nach „Ein ganzes Leben“ anschauen?
Hans Steinbichler: In der Tat ist es so, dass ich „Stella. Ein Leben“ als einen hochinteressanten Film empfinde. Es ist ein deutscher Film mit einem sehr schwierigen Thema, der konsequent eine Linie fährt, für die er ganz krass unter die Räder kommen wird. Aber man muss sich damit einfach auseinandersetzen. Ich habe den Film schon gesehen, deshalb sage ich: Schaut ihn euch an, sprecht und diskutiert!
Neben Hans Steinbichler haben wir auch noch Hauptdarsteller Stefan Gorski zum Interview getroffen – das Gespräch könnt ihr allerdings nicht nachlesen, sondern euch in der „Ein ganzes Leben“-Folge unseres Podcasts „Ein ganzes Leben“ anhören:
PS: Um dem immer mal wieder vorgebrachten „Vorurteil vom lahmen deutschen Film“ etwas entgegenzusetzen, hat sich die FILMSTARTS-Redaktion dazu entschieden, die Initiative „Deutsches Kino ist (doch) geil!“ zu starten: Jeden Monat wählen wir einen deutschen Film aus, der uns besonders gut gefallen, inspiriert oder fasziniert hat, um den Kinostart – unabhängig von seiner Größe – redaktionell wie einen Blockbuster zu begleiten (also mit einer Mehrzahl von Artikeln, einer eigenen Podcast-Episode und so weiter). „Ein ganzes Leben“ ist unsere Wahl für den November 2023.