Eine erfolglose Sängerin wird in der NS-Zeit von ihrem Lebenspartner getrennt, als er sein Leben riskiert, um jüdische Mitmenschen in Sicherheit zu bringen. Kurz darauf wird sie zur Lieblingssängerin zahlreicher deutscher Soldaten und geht auf umjubelte Tournee. Derweil sammelt sie heimlich Informationen über die Schandtaten der Nazis...
Das klingt nach Weltkriegs-Spionage-Fiktion, wie Hollywood sie sich ausmalt, ist aber eine wahre Begebenheit, die einer der markantesten Regisseure Deutschlands auf Film gebannt hat: „Lili Marleen“ ist eine Anomalie im Schaffen des Querkopfs Rainer Werner Fassbinder und erhitzte einst bei seinem Kinostart die Gemüter. Bislang gab's den Klassiker lediglich auf DVD, doch diese Woche feierte „Lili Marleen“ endlich Blu-ray-Debüt:
Die Blu-ray und die parallel dazu veröffentlichte DVD-Neuauflage kommen mit mehreren Extras daher. Neben einem 36-seitigen Booklet über die Hintergründe des Films gehört dazu unter anderem ein ausführliches Archiv-Interview mit Fassbinder.
"Lili Marleen": Auftragsarbeit mit echtem Fassbinder-Charakter
Zürich, 1938. Die erfolglose Barsängerin Willie (Hanna Schygulla) ist mit dem couragierten Komponisten Robert (Giancarlo Giannini) zusammen. Er stammt aus einflussreichem Hause und nutzt seine Verbindungen, um jüdischen Glaubensgenossen bei der Flucht in die Schweiz zu helfen. Als sich Willie ihm dabei anschließt, wird das Paar an der Grenze getrennt.
Die Sängerin bleibt gegen ihren Willen in NS-Deutschland zurück und macht dort Karriere. Vor allem ihre Schlagerschnulze „Lili Marleen“ erfreut sich enormer Popularität. Willie nutzt ihre unerwartete Beliebtheit daraufhin, um während einer Tournee Informationen über die Vernichtungslager zu sammeln und an Robert zu vermitteln...
Das Enfant terrible Fassbinder arbeitete meist nach eigener Schnauze und oft mit knapper Kasse sowie kurzer Drehzeit, nahm in diesem Fall aber einen Auftrag von Mainstream-Produzent Luggi Waldleitner an: Fassbinder wurden für die Verwirklichung von „Lili Marleen“ drei Monate Drehzeit bewilligt sowie ein stattliches Budget von zehn Millionen DM (inflationsbereinigt wären das heute über zwölf Millionen Euro).
Von diesen Mitteln machte Fassbinder ausgiebig Gebrauch: Die wahren Begebenheiten rund um Schlagersängerin Lale Andersen und Komponist Rolf Liebermann wurden mit geänderten Namen und allerlei dramaturgischen Freiheiten zum pompösen Ausstattungsfilm. Das Kinopublikum begrüßte dies warmherzig und machte „Lili Marleen“ mit 1,4 Millionen verkauften Eintrittskarten zu einem raren Massenerfolg Fassbinders.
Die besten deutschen Filme aller ZeitenDas Drama überholte an den Kinokassen sogar Hollywood-Ware wie „Superman II“ und erreichte mehr als doppelt so viele Menschen wie der französische Megakult „La Boum“. Die deutsche Filmpresse zeigte sich 1981 derweil weniger angetan, Zwar gab es auch positive Kritiken, doch viele Publikationen, die sonst Fassbinder schätzten, zeigten sich vom Pathos und Ausstattungsprunk des Film abgestoßen. Besonders harsche Kritiken warfen Fassbinder sogar eine Anbiederung an der NS-Ästhetik vor.
Diese kontroverse Sichtweise ist seither jedoch praktisch erloschen. Stattdessen herrscht in der Fachpresse und bei Fassbinder-Begeisterten die Sichtweise vor, dass der Regisseur in „Lili Marleen“ den selbstgefälligen Prunk des NS-Kollaborationskinos nimmt, um es zu kritisieren und demontieren. Generell stieg das Ansehen dieser Fassbinder-Anomalität über die Jahrzehnte hinweg an.
Nicht nur in der FILMSTARTS-Kritik wurde „Lili Marleen“ zum 5-Sterne-Meisterwerk ernannt, und selbst Fassbinder-Kenner*innen, die das nicht unterschreiben würden, dürften zustimmen: Für eine Auftragsarbeit weist das Drama viel seiner Handschrift auf. Nicht zwingend visuell, aber sehr wohl inhaltlich: Fassbinder erzählt in seiner typischen Art von einer sehnsüchtigen Liebe, die sich durch Distanz definiert – und nutzt dafür laut skizzierte Figuren, die dennoch vielschichtig sind.
Schygulla spielt Willie als angreifbare Protagonistin: Wie selbstsüchtig ist ihr Handeln? Ist sie eine karrierefixierte Mitläuferin, die ihr Gewissen durch etwas Spionage reinwäscht? Amoralische Künstlerin? Oder NS-Saboteurin, deren Seele auslaugt, weil sie den Faschisten gegenüber eine überzeugende, hohle Rolle spielen muss?
Fassbinder gibt keine leicht verdaulichen Antworten, zumal er die intimen Gefühle der Figuren stärker in den Fokus nimmt als den massiven politischen Überbau des Stoffes. Das schmerzt, ist aber auf eine nachhallende, zum Denken anregende Art unangenehm, statt auf eine Weise, die der Thematik unangemessen ist. Daher ist dieses Historiendrama eine mächtige Seherfahrung, die zu intensiv-nagendem Kopfkino wird, sobald sie endet.
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