+++ Meinung +++
David Lynch gehört zu einer Riege von Regisseuren, die als „Autoren“ bezeichnet werden: Ihrem Werk wird eine ganz bestimmte Machart und Handschrift zugeschrieben. Lynchs Filme sind dabei so speziell, dass ihm sogar ein eigenes Adjektiv zuteilwurde: „Lynchesk“, was dem „kafkaesken“ der Literatur nicht unähnlich ist. Kennzeichnend für seine Filme bzw. sein Gesamtwerk, zu dem auch bildende Kunst und Musik zählen, ist eine gewisse Düsterheit und Unerklärlichkeit, ein Hang zum Traum und Morbiden, welcher ihn auch in die Nähe des Surrealismus rückt.
Filme wie „Mulholland Drive“ (2001) und „Inland Empire“ (2006) oder auch die Kult-Serie „Twin Peaks“ (1990/91) lassen den Zuschauer verstört und rätselnd mit der Frage zurück: Was ist hier eigentlich gerade passiert?
So ging es mir auch, nachdem ich das erste Mal „Lost Highway“ (1997) gesehen habe. Diese so eigene Erzählweise und Bildsprache Lynchs haben mich sogar so weit fasziniert, dass ich mich mit seinem Schaffen in meiner Magisterarbeit befasst habe.
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DARUM GEHT ES IN LYNCHS „LOST HIGHWAY“
Es läuft nicht mehr ganz rund zwischen Fred Madison (Bill Pullman) und seiner Frau Renée (Patricia Arquette), als ihr Alltag plötzlich durch seltsame Geschehnisse gestört wird: Ihnen werden Videotapes zugespielt, auf denen zuerst ihr Haus und dann sie selbst schlafend zu sehen sind. Eine Aufnahme zeigt Fred selbst als Mörder seiner Frau inmitten ihrer zerlegten Körperteile. Plötzlich findet er sich in Polizeigewahrsam wieder, geplagt von Kopfschmerzen und Visionen.
Und dann geschieht das Unerklärliche: Er durchläuft eine Transformation und wird zu Pete Dayton (Balthazar Getty). Wieder auf freiem Fuß beginnt dieser eine Affäre mit Alice (erneut Patricia Arquette). Gemeinsam töten sie Andy, einen Porno-Regisseur, mit dem Alice einst verwickelt war. Doch dann ist da wieder Fred – und zwischen den Ebenen der Mystery Man, eine Mephistopheles-ähnliche mysteriöse Figur, die an zwei Orten gleichzeitig sein kann...
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Warum ihr „Lost Highway“ unbedingt schauen solltet, will ich euch nun verraten.
NICHTS IST WIE ES SCHEINT
Allein die Inhaltsangabe zeigt: Dieser Film hat es in sich. Was genau hier passiert, lässt sich kaum wiedergeben und entzieht sich jeglicher Interpretation. Eine psychoanalytische Lesart liegt nahe: Ist Fred schizophren geworden, hat seine Frau zerstückelt und wurde dann zu seinem potenten Alter Ego Pete? Doch wie kann es dann sein, dass die Verwandlung auch für die Polizisten real ist und sie Petes Fingerabdrücke überall in Andys Wohnung finden?
Und welche Rolle spielt der Mystery Man in dem Ganzen? Ist er tatsächlich ein Mephistopheles, ein Teufel? Ist das nun ein Fantasy-Film oder ist er nur allzu real? Während Fred sagt, er möge keine Kameras, denn er erinnere sich gerne an Dinge auf seine Weise, ist der Mystery Man derjenige, der hier filmt. Ist er der Zeuge oder gar der Antreiber für Freds Bluttat? Und wie kann es sein, dass er, während er neben Fred steht, gleichzeitig am anderen Ende der Telefonleitung mit ihm sprechen kann? Existiert er womöglich nur in seinem Kopf? Doch warum können andere ihn ebenfalls sehen?
„The owls are not what they seem“ hieß es schon in „Twin Peaks“. Und so zeigt auch „Lost Highway“, dass den Bildern Lynchs und Filmbildern im Allgemeinen nicht immer zu trauen ist. Vielleicht ist der ganze Film auch nur ein Traum? „I love dream logic. I just love the way dreams go.“, so Lynch.
EIN SPIEL MIT GRENZEN UND BEWUSSTSEIN
Was Lynch mit seinen Filmen macht, ist so einfach wie auch irritierend: Durch Doppelungen von Schauspielern, aber eben auch durch die Montage verschiedener Erzählebenen (auch in „Mulholland Drive“ z. B. wird die Protagonistin in eine gänzlich neue Story geworfen) führt er die Handlung ad absurdum.
Er lässt seine Figuren Metamorphosen und Identitäten durchlaufen und reichert das Ganze noch mit einer düsteren Stimmung an, die nicht zuletzt durch die (häufig von ihm selbst komponierte) Musik getoppt wird. Auch in „Lost Higway“ finden sich verzerrte, fragmentierte Einstellungen, dunkle „Nicht-Orte“ und Gänge, in denen sich Fred/Pete aufhält und vermeintlich psychologisch Aufgeladenes. Freud prägte seinerzeit den Begriff des Unheimlichen, hier dringt es aus jeder Ecke.
Lynch spielt mit Oberflächen und Grenzen, seien es die der Haut oder die der Videoaufnahmen, die gleichzeitig auch Erinnerungen von Fred sein könnten. Fred, Pete, Alice, Renée, Innen, Außen, der Anfang ist das Ende – wo befinden wir uns eigentlich? Und ehe wir es uns versehen, sind wir längst lost.
Damit ist „Lost Highway“ mit Sicherheit einer der Vorläufer für viele Filme, die ebenfalls mit Wahrnehmung und Bewusstsein spielen, bzw. Bewusstsein zeigen und damit gleichzeitig ein Bewusstsein für den Film schaffen: „Black Swan“ beispielsweise, „Fight Club“ oder gar „Inception“. Mit einem Unterschied: Diese Filme liefern eine Erklärung mit. Nicht so die Filme von Lynch, die einen, so scheint es, nur verwirren möchten.
Aber genau dafür steht es ja, das lyncheske, und das ist es, was auch „Lost Highway“ ausmacht. Man selbst wird hier an die Grenzen des filmisch Möglichen und Begreifbaren gebracht. Und am Ende ist es ganz egal, ob der Protagonist nun wahnsinnig ist oder nicht, denn „Lost Highway“ ist einfach ein Wahnsinnsfilm, den alle Filmfans mindestens einmal gesehen haben sollten.
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