Als „Vertigo“ 1958 in die amerikanischen Kinos kam, waren die Reaktionen von Publikum und Kritik nicht gerade überschwänglich. Eine Zeitung bezeichnete die Handlung sogar als Unsinn. Andere meinten, der Einstieg sei viel zu langatmig geraten. Erst in den 60er Jahren, dann 1984 bei der Wiederaufführung und 1996 in einer aufwendig restaurierten 70mm-Fassung interessierte man sich wieder für den „Schwindel“ von „Vertigo“. Seitdem wurde der Film zu einem der meist besprochenen und analysierten Hitchcock-Streifen.
Scottie Ferguson (James Stewart) ist niedergeschlagen. Er, ein ehemaliger Polizeibeamter, macht sich schwere Vorwürfe, am Tod eines Kollegen zumindest mitschuldig zu sein. Den konnte er nicht retten, weil ihn seine Höhenangst daran hinderte. Da er den Dienst bei der Polizei quittieren musste, schlägt sich Scottie nun als Privatdetektiv durch. Ein alter Schulfreund, Gavin Elster (Tom Helmore), scheint Abwechslung zu bringen. Er bittet Scottie darum, seine Frau Madeleine (Kim Novak) zu observieren, weil er Angst habe, sie könne sich umbringen. Elster erzählt Scottie eine merkwürdige Geschichte: Seine Frau glaube, vom Geist ihrer Urgroßmutter verfolgt zu werden, die sich 100 Jahre zuvor umgebracht habe, weil ihr brutaler Mann ihr das Kind weggenommen habe. Scottie glaubt an solche Geschichten nicht. Aber er übernimmt den Fall trotz seiner Bedenken und beobachtet Madeleine auf ihren Wegen durch San Francisco.
Nachdem Madeleine das Grab ihrer Urgroßmutter und ein Museum besucht hat, in dem ein Bild der Vorfahrin hängt, springt sie von der Golden Gate Bridge in die Bucht von San Francisco. Im letzten Moment kann Scottie Madeleine retten und verliebt sich in sie. Nachdem sich beide näher gekommen sind, erzählt Madeleine von einem Traum, in dem das Kloster San Juan Batista vorkommt. Scottie sieht eine gewisse Chance, Madeleine von dem Fluch zu befreien, und fährt mit ihr zu dem Kloster. Doch dann muss er mit ansehen, wie Madeleine plötzlich die Treppe zum Kirchturm hinauf steigt und sich herunter stürzt. Er konnte Madeleine wegen seiner Akrophobie nur langsam folgen und macht sich erneut Vorwürfe, für den Tod eines Menschen verantwortlich zu sein. Ohne die Hilfe der pragmatischen Werbedesignerin und alten Freundin Midge (Barbara Bel Geddes) ginge es Scottie nun schlecht. Zudem muss er sich vorübergehend in psychologische Behandlung begeben. Diagnose: „Akute Melancholie, verbunden mit einem Schuldkomplex.“
Auch als er aus einer Heilanstalt entlassen wird, will Scottie nicht wahr haben, dass Madeleine tot ist. Auf seinen planlosen Streifzügen durch die Stadt sucht er verzweifelt in jeder Frau Madeleine. Tatsächlich trifft er eines Tages auf eine Frau, Judy Barton (Kim Novak), die Madeleine zum Verwechseln ähnlich ist, auch wenn sie statt blonder brünette Haare hat und etwas fülliger wirkt. Judy behauptet, nie etwas von einer Madeleine Elster gehört zu haben. Doch Scottie ist so besessen von dem Gedanken, in Judy Madeleine wiedergefunden zu haben, dass er von ihr verlangt, sich so anzuziehen wie Madeleine, sich die Haare zu blondieren, sich so zu bewegen.
Dann kommt in Scottie ein Verdacht auf, und er erfährt etwas, was alles verändert ...
Es ist kein Wunder, dass „Vertigo“ zu allen möglichen Interpretationen und (psychologischen) Analysen reizt. Es ist auch nicht sehr erstaunlich, dass dies erst mehr als ein Jahrzehnt nach der Uraufführung geschehen ist, in einer Zeit, in der sich die Öffentlichkeit verstärkt für Beziehungsnetze und ihre Funktionsweise interessierte und das Individuum ins Zentrum des psychologisch und pädagogisch untermauerten Blicks einer Gesellschaft rückte, die vorher eher an Kollektiven ausgerichtet zu sein schien.
Auffallend an „Vertigo“ ist aber zunächst, dass Hitchcock gegen alle Suspense-Erwartungen weit vor Ende des Films Scottie „informiert“, was sich hinter der ganzen Geschichte verbirgt und damit der Spannung eine andere Richtung gibt: Wie wird Scottie reagieren, nachdem er die Wahrheit kennt, dass Judy und Madeleine ein und dieselbe Person sind? Der Film fällt so in zwei ganz unterschiedliche Suspense-Teile: ein hinterlistig gestricktes Komplott, in dem Elster Scottie zu seinem Werkzeug macht, und die totale Kehrtwendung, in dem Scottie mit dieser Instrumentalisierung seiner Person konfrontiert wird und sich nun entscheiden muss, wie er darauf reagiert. Diese Frage ist nämlich zunächst offen, da Elster nicht damit gerechnet hatte, dass sich Scottie in Madeleine verliebt.
Weit mehr als in vielen anderen Filmen Hitchcocks treibt er die Psychologisierung seiner Figuren in „Vertigo“ sozusagen auf die Spitze: Da ist Scottie, der nicht nur unter seiner Höhenangst zu leiden hat, sondern ein unsicherer, deprimierter Mann ist, der der Hilfe eines Arztes und seiner Freundin Midge bedarf, einer forschen, geradezu emanzipierten Frau, die fast eine Art Mutterstellung gegenüber Scottie einnimmt. Dann trifft er auf die blonde Schönheit Madeleine, in die er sich total verliebt, und muss mit ansehen, wie diese Frau (scheinbar) in den Tod stürzt. Er durchlebt in stärkerem Maße die gleiche Katastrophe wie beim Tod eines seiner Kollegen. Erst musste er seinen Dienst quittieren, jetzt vor der Liebe im Angesicht des Todes kapitulieren. Dadurch gerät er immer stärker in eine melancholische Verstimmung und bezichtigt sich einer doppelten Schuld am Tod zweier Menschen.
Wie reagiert er? Er will den Tod Madeleines – wider besseren Wissens – nicht akzeptieren, sucht nach ihr, schaut jeder Frau mit blonden Haaren ins Gesicht, um sie zu finden. Hitchcock selbst charakterisiert Scotties psychische und emotionale Situation als Ausdruck einer Art Nekrophilie, weil er versucht, „ein unmögliches sexuelles Bild wieder zum Leben zu erwecken“. Noch mehr: Er versucht, dieses Bild an einer (vermeintlich) anderen Frau wiederherzustellen. Und mit ihm der Zuschauer: Denn in der Tragik des Todessturzes Madeleines liegt auch die Dramatik des (unmöglichen) Festhalten-Wollens der (unnahbaren) Schönheit, des ewigen Ästhetischen , in dem Versuch der Rekonstruktion dieser Schönheit an einer anderen Person die doppelte Vergeblichkeit
Dieses doppelte Scheitern steigert sich in seiner Dramatik sowohl durch die Enthüllung, die Demaskierung von Judy, die ja keine andere als Madeleine ist, und durch den „zweiten“ Tod Judy-Madeleines, der Scottie in die Situation des fast schon klassischen tragischen Helden stürzt, der vor einem Abgrund seines Lebens steht. Die Demaskierung selbst ist zudem eine doppelte: Denn sie enthüllt nicht nur die Identität beider Frauen als einer einzigen, sondern auch das unnahbar-idealisierte (Trug-)Bild Scotties von Madeleine. Sie hatte Scottie gegenüber nicht nur ihre Identität verheimlicht, sondern auch ihre Instrumentalisierung als Lockvogel Elsters in einem Spiel, das Mord hieß.
(Nur nebenbei: Kim Novak sieht tatsächlich als Madeleine fast vollständig anders aus denn als Judy Barton. Man weiß, dass Hitchcock Kim Novak nicht unbedingt mochte. Man könnte darüber spekulieren, dass er selbst auch Kim Novak in „Vertigo“ zu „Judy Barton“ desavouieren wollte.)
Zwei Szenen verdeutlichen die Nekrophilie vielleicht am besten. Als Scottie Madeleine aus dem Wasser fischt, bringt er sie nach Hause. Man sieht Kim Novak nackt im Bett liegen. Er muss sie also ausgezogen und nackt gesehen haben. Die andere Szene: Er fordert Judy auf, ihre Haare zu blondieren. Doch es fehlt noch etwas. Sie hat ihre Haare nicht, wie Madeleine, zum Knoten hochgebunden. „Was heißt das? Das heißt, fast steht sie nackt vor ihm, sie braucht nur noch den Slip auszuziehen.“ Judy („Gut, ich mach’s schon“) geht ins Bad. „James Stewart wartet. Er wartet darauf, dass sie diesmal nackt zurückkommt, bereit zur Liebe“ (Hitchcock im Gespräch mit Truffaut). Zwei großartige Szenen, in denen Kim Novak und James Stewart ihr Können auf die Spitze treiben. Hitchcock filmt die Novak, wenn sie aus dem Bad kommt, in grünen Neonlicht, das von einer Reklame an der Außenseite des Hotels herein blinkt. Der Effekt: Judy erscheint wie eine Gestalt– zwischen ihrer Verkleidung zu Madeleine und kurz vor ihrer Demaskierung durch Scottie –, die aus dem Totenreich kommt. Das Medaillon, das Scottie dann wiedererkennt, fungiert als Auflösung dieses Scheins.
Madeleine – das ist das zeitlose Trugbild einer unvergänglichen Schönheit und Reinheit, in das sich Scottie verliebt. Am Schluss des Films bricht dieses Trugbild gnadenlos zusammen: Judy stürzt nun in den wirklichen Tod. Scottie steht da, mit ausgebreiteten Armen, hat zwar (immerhin) seine Höhenangst verloren, ist aber bar jeglicher Hoffnung: ein endgültig hoffnungsloser Mensch, der vor dem Zusammenbruch seiner Erwartungen, Träume, Wünsche und doch gleichzeitig eben auch vor der Zerstörung seiner Ängste steht. Insofern ist „Vertigo“ ein schwindelerregendes Erlebnis, das eben nicht in einer totalen Katastrophe endet, sondern in der nüchternen Realität. Dadurch erübrigt sich die Frage, ob „Vertigo“ nun ein pessimistischer oder ein optimistischer Film ist. Wenn, dann ist er beides, weil Hitchcock den Schleier aus Angst und Hoffnung gnadenlos zerreißt.
Zitate aus: François Truffaut (in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott): Truffaut / Hitchcock, München / Zürich 1999 (Diana-Verlag) (Originalausgabe: 1983), S. 207-208. Vgl. auch Beier/Seeßlen (Hrsg.): Alfred Hitchcock, Berlin 1999, S. 388-395.