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    Philadelphia
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Philadelphia
    Von Jonas Reinartz

    Dem sonst so lässigen Sonnyboy wird sichtlich unwohl, immer stärker regt sich in ihm die Besorgnis. Hat sein ausgemergeltes Gegenüber wirklich seine Mütze auf den Schreibtisch gelegt? Haben seine Finger tatsächlich eine Zigarre (sie ist zwar in Plastik verpackt, aber man weiß ja nie) angepackt? Hier handelt sich um eine zentrale Szene aus Jonathan Demmes vielfach preisgekröntem Aids-Drama „Philadelphia“, in welcher der sterbenskranke Protagonist seinen Kollegen um juristischen Beistand bittet. Dieser lehnt ab und lässt sich im Anschluss von einem Mediziner versichern, dass die todbringende Krankheit nur durch Körperflüssigkeiten übertragen werden kann, ganz gewöhnlicher Kontakt folglich völlig unbedenklich ist. Später wird der Bedenkenträger sich zwar umentscheiden, bedeutend sind seine Vorbehalte dennoch. „Philadelphia“ mag aus heutiger Sicht gelegentlich etwas zu schematisch oder didaktisch erscheinen; 1993, im Jahr seines Erscheinens, waren wesentliche Aspekte der Epidemie der breiten Öffentlichkeit aber noch nicht geläufig und es herrschte allgemeine Verunsicherung. Regisseur Demme hatte nach seinem Triumph mit Das Schweigen der Lämmer freie Hand erhalten und schuf einen eminent wichtigen Beitrag zu einer brisanten Thematik. In seiner niemals kitschigen Emotionalität erweist sich dieser Kassenerfolg als äußerst bewegendes Dokument eines langsam voranschreitenden Umdenkens, was ihm auch filmhistorische Bedeutung sichert.

    Andrew Beckett (Tom Hanks) scheint alles im Leben erreicht zu haben. Nach dem erfolgreichen Abschluss seines Studiums an der renommierten Universität von Pennsylvania arbeitet der hochintelligente Jurist in einer der besten Kanzleien in Philadelphia. Kürzlich wurde er von seinem Chef Charles Wheeler (Jason Robards) zum „Senior Associate“ erkoren - einem baldigen Aufstieg zum vollwertigen Partner steht offenbar nichts im Wege. Bislang hat Beckett seine Homosexualität und HIV-Positivität erfolgreich vertuschen können. Als erste äußerliche Symptome sichtbar werden, verschwindet urplötzlich eine wichtige Prozessakte, für die Beckett Verantwortung trug, und die dazugehörige Computerdatei ist gelöscht. Zwar kann gerade noch rechtzeitig das Schlimmste verhindert werden, doch der einstige Protégé wird in Windeseile eiskalt fallengelassen. Damit findet sich der zunehmend geschwächte Beckett nicht ab, denn er fühlt sich maßlos diskriminiert und fordert Gerechtigkeit. Nachdem insgesamt neun Anwälte abgelehnt haben, seinen Fall zu übernehmen, begibt er sich zum Afroamerikaner Joe Miller (Denzel Washington), dem er vor kurzem beruflich als Widersacher begegnet war…

    Schätzungen zufolge sind weltweit 33 Millionen Menschen mit dem HI-Virus, das nach unterschiedlich langer Inkubationszeit in Aids mündet, infiziert. Allein in Deutschland leben 63.500 Betroffene. 25 Millionen Tote sind bisher zu beklagen. In den USA wurden die ersten Fälle in der Homosexuellenszene der Großstädte bekannt. Angesichts im Durchschnitt häufigerer Partnerwechsel ist das Ansteckungsrisiko dort deutlich höher als bei Heterosexuellen. Vor dem Hintergrund der schieren Unaufhaltbarkeit der Krankheit, die leicht biblische Assoziationen auslöste, wurde von extrem konservativer Seite einfach behauptet, es handele sich um eine Strafe Gottes für sündhaftes Handeln. Selbst heute gibt es noch dubiose Skeptiker, die von einer „Aids-Lüge“ ausgehen und in einem fahrlässigen Lebenswandel die Ursache für die quälenden Symptome sehen. Selbst wenn diese Ansichten nicht die Mehrheitsmeinung darstellten, so waren Aids und Homosexualität in der öffentlichen Wahrnehmung scheinbar untrennbar miteinander verknüpft. Ein derart intimes und vorbelastetes Thema, war in Hollywood lange ein Tabu. Zunächst wurde es nur in kleineren Independent-Filmen wie Bill Sherwoods „Abschiedsblicke“ aus dem Jahre 1984 direkt aufgegriffen. Erst in den 90er Jahren fand das Thema Eingang in Mainstream-Produktionen. Der bemerkenswerte Fernsehfilm „…und das Leben geht weiter“, der die Entdeckung des Virus in Amerika schilderte, entstand 1993 fast zeitgleich mit „Philadelphia“, der dann für großes Aufsehen sorgte.

    Bei der Besetzung des Films mit dem für seine Leistung oscargeadelten Tom Hanks (Forrest Gump, Der Soldat James Ryan, Apollo 13) und Denzel Washington (Training Day, American Gangster) in den zentralen Rollen sind die Filmemacher äußerst überlegt vorgegangen. Hanks war zwar zur Entstehungszeit noch nicht der heutige Superstar, allerdings hatten vergnügliche Kassenhits wie „Big“ oder Schlaflos in Seattle ihn weltweit bekannt und beliebt gemacht, selbst ein Megaflop wie Brian de Palmas „Fegefeuer der Eitelkeiten“ tat da keinen Abbruch. Das Geheimnis seines Erfolges ist dabei schnell erklärt: Hanks ist erschreckend normal, er verkörpert perfekt den Durchschnittsamerikaner. Dies bedeutet keinesfalls, dass er nicht auch Intellektuelle wie den Symbologen Robert Langdon (The Da Vinci Code – Sakrileg, Illuminati) glaubhaft zu mimen vermag, gerade Hanks‘ Bodenständigkeit sorgt für den stetigen Kontakt zum Publikum. Dies ließ ihn für Demme zur Idealbesetzung werden, um einer Massenöffentlichkeit einen schwulen Aidspatienten nahe zu bringen, auch und gerade gegen etwaige Vorbehalte.

    Man mag nun einwenden, dass es ein billiger Trick sei, hier einen eindeutig heterosexuellen Sympathieträger einzusetzen. Dabei geht es doch gerade darum, die Grenzen zwischen den Orientierungen und Lebensentwürfen zu nivellieren, es soll einfach um Menschen mit ihren alltäglichen Sorgen gehen, mit wem sie ihr Bett auch teilen mögen. Die vermeintliche Abweichung wird in das überführt, was von den meisten Zuschauern als wohlanständige Normalität goutiert werden kann. Hanks ist also sozusagen der Zuckerguss, der die „bittere Pille“ schlucken hilft. Ein aufschlussreiches Manöver, das zeigt, dass von einer eigentlich als selbstverständlich zu erwartenden Offenheit und Toleranz nicht ausgegangen wurde. Davon abgesehen, wirkt Hanks nie unglaubwürdig, auch die gelegentlich einfließenden weicheren Bewegungen und Gesten erscheinen nie überzogen. Sein Miterleben der von Maria Callas interpretierten Arie „La Mamma Morta“ ist sicherlich sogar eine der herausragenden Szenen seiner ganzen Karriere.

    Denzel Washington, der stellvertretend die Position des kritischen Publikums einnimmt und sukzessive lernt, seine Vorurteile abzubauen, spielt die ungewohnte Rolle mit gewohnter Souveränität, während Antonio Banderas (Desperado, Die Legende des Zorro) überraschend subtil auftritt. Auch Hollywood-Veteran Jason Robards (Spiel mir das Lied vom Tod, The Day After, Magnolia) agiert superb. Ihm gelingt es, einen uneinsichtigen Konservativen zu verkörpern, ohne einer Dämonisierung Vorschub zu leisten, was auch Mary Steenburgen („Melvin und Howard“, Die Fremde in dir, Die Stiefbrüder) als pflichtbewusster, jedoch zweifelnder Anwältin der Gegenseite trefflich glückt.

    Ohnehin wird penetrante Schwarzweißmalerei vermieden. Zwar werden einige Klischees gestreift, Becketts Familie etwa ist einen Tick zu liberal und solidarisch, somit der Kontrast zur illoyalen „Firmenfamilie“ überdeutlich. Und dass Andrews Lebenspartner als Lateinamerikaner ebenfalls einer Minderheit angehört, zeugt auch nicht gerade von Subtilität. Doch diese Mankos sind einer klaren Dramaturgie geschuldet, die sich in den besten Momenten als äußerst effektiv erweist. Wenn der schwarze Anwalt Miller zunächst selbst von herablassenden Blicken abgetastet wird und wenig später Zeuge wird, als sein kranker Ex-Kollege im Lesesaal einer Bibliothek wie ein Aussätziger behandelt wird, dann begreift er die Parallele zwischen der immer noch grassierenden Rassendiskriminierung und seinem eigenen feigen Handeln bei der Ablehnung des Mandats. Mit dieser Verdichtung gelingt Demme ein überzeugender Appell für Toleranz und Mitmenschlichkeit.

    Selten ist das aus den Schriften des römischen Dichters Horaz abgeleitete Kunstcredo „Prodesse et delectare“ („Nutzen und erfreuen“) so gelungen umgesetzt worden wie im Falle von „Philadelphia“. Im Kern ein Aufklärungsstück über ein lange verdrängtes Problem, ist der Film zugleich ein packendes Gerichtsdrama. Dabei ist das Ergebnis keinesfalls weichgespültes Kommerzkino, trotz der ein wenig zu dräuenden Musik Howard Shores (Der Herr der Ringe-Trilogie, A History Of Violence) oder der schon erwähnten utopischen Familie. Demmes Handschrift ist stets erkennbar: Wie auch in seinem Serial-Killer-Film Das Schweigen der Lämmer präsentiert sich der Filmemacher mit kunstvollen Steadycam-Aufnahmen, wohldosierten intensiven Nahaufnahmen sowie Einstellungen, in denen die Akteure direkt in die Kamera schauen (ein wirkungsvoller Regelbruch, den der Regisseur mit Vorliebe begeht) als versierter, aber uneitler Stilist. Auch die sehr subjektive Musikauswahl ist charakteristisch, wobei die beiden Originalsongs von Bruce Springsteen („Streets Of Philadelphia“) und Neil Young („Philadelphia“) besonders berührend sind. Des Weiteren findet sich in den Aufnahmen eines Familienfestes der Becketts im Rückblick sogar bereits die Ankündigung der semidokumentarischen Ästhetik und Atmosphäre des 15 Jahre später entstandenen Dramas Rachels Hochzeit.

    Die Offenheit gegenüber der Aids-Thematik mag zugenommen haben, trotzdem ist „Philadelphia“ nach wie vor ein aufrüttelndes Drama, das gerade jüngeren Zuschauern als Aufklärung dienen kann. Unterstützt durch zwei der erfolgreichsten und beliebtesten Stars der Filmwelt ist Jonathan Demmes nobles Projekt vermutlich immer noch in der Lage, mehr Aufmerksamkeit als so manche gesundheitspolitische PR-Aktion zu erlangen. Es wird aber nicht nur eine wichtige Botschaft gepredigt, „Philadelphia“ ist trotz oder gerade wegen einiger vermeintlicher Schwächen vor allem ein perfekt realisiertes und emotional fesselndes Studio-Produkt.

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