Insbesondere im amerikanischen Kino gilt die Jugend als letzte Bastion vor dem Ernst des Lebens. Sie ist ein einziges Abenteuer zwischen naiven Liebeleien, Partys und kurzfristigen Schulsorgen. Dass sie auch eine Zeit der Irrwege, der Entfremdungen und der quälenden Suche nach einem Platz in der Welt ist, wird dabei oft verschwiegen. Das mit jeder Jugendzeit verbundene Gefühl der Zerrissenheit wurde selten adäquat auf die Leinwand übersetzt. „This Boy's Life" ist eine rare Ausnahme. Mit seinem Adoleszenz-Drama von 1993 wirft Michael Caton-Jones einen erstaunlich ungeschönten Blick auf die Nöte des Heranwachsens. Er stützt sich dabei auf die autobiographische Erzählung des amerikanischen Autors Tobias Wolff und gestaltet seinen in den 1950ern spielenden Film als Mischung aus kantigem Coming-of-Age-Drama, zeitgeschichtlicher Beobachtung und, ja, kurzen Horrorspitzen. Zumindest ist mit Robert De Niros despotischem Stiefvater Dwight Hansen ein Monster dabei, das so mancher Genre-Figur die Stirn bieten könnte.
Tobias (Leonardo DiCaprio) hat einen kleinen Knacks. Die Ehe seiner Eltern ging bereits vor Jahren in die Brüche und so zieht er mit seiner leicht instabilen Mutter Caroline (Ellen Barkin) zu oft um, um an einem Ort heimisch zu werden. Die Wurzellosigkeit schlägt sich in einem aufmüpfig-halbstarken Verhalten nieder, das alles nur noch schlimmer macht. Als Schulrowdy macht er seinem Umfeld beinahe tagtäglich das Leben schwer. Ein männliches Rollenvorbild müsste her, doch die wechselnden Affären der Mutter und die Abwesenheit des Vaters werfen ihn immer wieder auf sich selbst zurück. Im etwas biederen Dwight Hansen (Robert De Niro) glaubt Caroline endlich den Richtigen gefunden zu haben. Zusammen mit Tobias zieht sie ins verschlafene Kaff Concrete, in dem Dwight mit seinen Kindern aus erster Ehe lebt. Schnell jedoch entpuppt er sich als strunzdummer Sadist, der Caroline und Tobias mit eiserner Faust unter seiner Fuchtel hält...
Dass eine so persönliche Story nach besonders ausdrucksstarken Darstellern verlangt, ist eine Selbstverständlichkeit. „This Boys Life" ist präzises und glänzendes Schauspielerkino, wie es im Buche steht. In der Hauptrolle zeigt ein junger Leonardo DiCaprio, was er drauf hat. Hier und da sieht man ihm seine Suche nach schauspielerischer Identität noch an – man denke nur an seine Rotz-und-Wasser-Performance in „Jim Carroll". Anders als heute neigte er damals zu übergroßen Gesten, die in „This Boy's Life" allerdings wunderbar zur Figur passen. Sein Tobias rennt gegen Mauern und sucht die große Pose. Caton-Jones ist dabei behutsam genug, nicht bloß jugendliche Eitelkeiten abzubilden und die „Leiden des jungen Leo" zu inszenieren. Vielmehr führt er die halbstarke Unsicherheit seines Protagonisten deutlich vor. Vor allem zu Beginn fällt es schwer, Sympathien für diesen von unartikulierter Wut zerfressenen Lausebengel zu entwickeln. Einen Stiefdaddy wie Dwight wünscht man andererseits nicht einmal seinem schlimmsten Feind an den Hals.
Robert De Niro zeigt, warum er einmal der größte Schauspieler seiner Generation war, bevor ihn im vergangenen Jahrzehnt zunehmend das Gespür für starke Rollen verließ. Hier entwirft er ein so widerwärtiges Scheusal, dass selbst der reservierteste Zuschauer nicht mehr anders kann, als in blanken Hass zu verfallen. Waren seine Antagonisten immer interessant oder zumindest interessant anzusehen, steht der despotische Vater hier für die Banalität des allzu menschlichen Bösen, das sich aus Stolz, Ignoranz und kultiviertem Sadismus zusammensetzt. Das wirkt erschreckend real und mehr als einmal fragt man sich dabei, wie viele Dwights wohl unter uns leben. Ellen Barkin als Dritte im Bunde hat etwas weniger Spielraum, macht die Angst um ihren Sohn, ihr fehlgeleitetes elterliches Pflichtgefühl und die stille Trauer aber auch mit verhältnismäßig wenigen darstellerischen Pinselstrichen hautnah erfahrbar.
Auch Michael Caton-Jones' Regie kann kaum hoch genug gelobt werden. Seiner sicheren Erzähl- und Schauspielführung ist es zu verdanken, dass seine Darsteller nicht nur hochgradig expressiv, sondern auch stets im Dienst der Geschichte spielen. Hier gibt es keine Zäsuren, keine hochdramatischen Wendepunkte, von denen aus es endlich bergauf für den Protagonisten geht. Tobias' Entwicklung verläuft fließend und es liegt am Publikum, sie zu deuten. Speziell seine Freundschaft zu Arthur (Jonah Blechman), dem verzärtelten und vermeintlich homosexuellen Außenseiter der Stadt, ist ambivalent und nie weichgespült. Auf Kitsch und Pathos wird fast durchweg verzichtet. Trotz Ecken und Kanten ist Caton-Jones' Werk dennoch sehr gut konsumierbar, oft witzig im Tragischen, tragisch im Komischen und grauenhaft im Realistischen. Ein kleines Meisterwerk eben.
Fazit: Mit „This Boy's Life" beschenkt Michael Caton-Jones diejenigen, die sich auf seine unaufgeräumte Coming-of-Age-Geschichte einlassen, mit einer wundervoll unprätentiösen Beobachtung über einen Jungen, der im Angesicht von Dummheit und Gewalt zu sich selbst findet.