Martin Scorseses Interpretation des Romans der 1930 verstorbenen Schriftstellerin Edith Wharton spielt im New York der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, in den Salons, prunkvollen Häusern, den Restaurants der ältesten und reichsten Familien der Stadt, die an allen Ecken und Enden irgendwo miteinander verwandt zu sein schienen. Eine Erzählerin (Joanne Woodward in der Originalfassung) führt uns ein in diese Kreise der Hautevolee, in ihr strenges Reglement, in ihre Gesetze, in eine Welt, in der Regeln und Regelverletzungen gleichermaßen in einem großen, ungeschriebenen Buch geordnet sind. Edith Wharton, die selbst dieser Klasse entsprang, besaß ein feinsinniges Gefühl für die Details, komplizierten und komplexen Verhaltensmuster ihrer Klasse und schrieb mit einer guten Portion Ironie ihre Romane. Scorsese gelingt (nicht nur) durch die Erzählerin, mit dieser manchmal bitteren, manchmal bösen Ironie, die aber nicht verletzen soll, was schon verletzt ist, eine bezaubernde und zugleich erschreckende Atmosphäre zu erzeugen.
Der junge Anwalt Newland Archer (Daniel Day-Lewis) gehört einer dieser Familien an und beabsichtigt, die reizende May Welland (Winona Ryder) zu ehelichen. Der Zufall will es, dass beide einander mögen. Beide wissen exakt, was von ihnen erwartet wird. Ehe, das ist in ihren Kreisen nicht zuallererst verbunden mit Zuneigung, sondern mit Konvention, Verpflichtung der eigenen Familie gegenüber und Konvenienz. Als die Cousine Mays, die Gräfin Ellen Olenska (Michelle Pfeiffer), die ihre Jugend in New York verbracht hat, aus Europa zurückkehrt, wo sie mit einem polnischen Adligen unglücklich verheiratet ist, gerät das Gefüge der New Yorker Gesellschaft durcheinander. Ellen hofft, von hier aus ihre Scheidung in die Wege leiten zu können. Und sie hofft dabei auf Unterstützung durch ihre Familie und andere. Doch die Gräfin hatte nie als Erwachsene in der New Yorker Gesellschaft gelebt und begreift zunächst nicht, was sich hinter ihrem Rücken abspielt. Für die eigene Familie wie für die upper class insgesamt war ihre Heirat nach Europa schon ein Regelverstoß, den man ihr nie verziehen hatte. Und jetzt soll man mit der Scheidung einverstanden sein? Durch eine einflussreiche Familie gelingt es Archer, sie über einen Empfang den Zutritt zur Gesellschaft zu verschaffen, um ihr eine Chance zu geben, „vernünftig“ zu werden.
Newland Archer ist fasziniert von Ellen. Ihr Kampf für Freiheit, für Unabhängigkeit, ihre Weltoffenheit bringen ihn dazu, sie vor den anderen zu verteidigen. Als Anwalt allerdings wird er dazu verpflichtet, Ellen von der Scheidung abzuhalten, vordergründig, weil der Graf sie in der Öffentlichkeit moralisch zerstören würde, in Wahrheit, weil man die Klasse schützen will. Newland gerät in eine Zwickmühle: Er will in die Gesellschaft einheiraten und muss daher in deren Sinne gegenüber Ellen tätig werden, hat sich zugleich aber in Ellen verliebt und will sie beschützen...
Scorsese zeigt uns den prunkvollen Lebensstil, die rauschenden Bälle, die exzellenten Diners, die Villen, reich ausgestattet mit Gemälden und altem Interieur, die zu jeder Gelegenheit wechselnden Kostüme – Kurz: die ganze äußerliche Pracht einer Klasse. Er erzählt uns von den uns so fremd vorkommenden Reglements, überwacht von der äußerst beleibten Mrs. Mingott (Miriam Margolyes) (die ihre Wohnung nicht mehr verlässt, weil sie die Teppen nicht mehr hinauf und hinunter kommt), einer Art Oberster Gerichtshof der Aristokratie, die ihren Einfluss und ihr Geld dazu einsetzt, Ehen zu stiften, Regelverstöße zu ahnden und Konflikte im Sinne der Familien zu lösen. Scorsese zeigt uns Larry Lefferts (Richard E. Grant), sozusagen „Presseorgan“ der Gesellschaft, eine männliche adlige Klatschbase, ein Wächter der Tugend, der seine Augen und Ohren überall hat, intrigiert, berichtet, dafür sorgt, dass niemand zu einer Gefahr wird. Last but not least Mr. Beaufort (Stuart Wilson), der offiziell „anständig“ verheiratet ist und von dem inoffiziell alle wissen, dass er hier und da seine Mätressen besucht. Solange er sich damit nicht in der Öffentlichkeit zeigt oder gar brüstet – was ihm nie einfallen würde –, wird sein Regelverstoß als Teil des Reglements selbst geduldet.
Michael Ballhaus großartige Bilder und Thelma Schoonmakers Schnitt sorgen dafür, dass wir in diese Atmosphäre im wahrsten Sinn des Wortes eintauchen können. Schuld und Unschuld, Leidenschaft und Gewalt äußern sich hier anders als etwa in „GoodFellas“: Keine rohe Gewalt, aber auch keine unbekleideten Körper, keine Polizei und kein Gericht bestimmen das Leben der New Yorker Gesellschaft. Man könnte es eher als eine Art strukturelle Gewalt bezeichnen, die sich im Verhalten der Figuren festgesetzt hat. Emotion und Terror sind zivilisiert worden, spielen sich in aller Regel im Stillen und Geheimen ab.
Archers Leben wird zerstört und er zerstört es selbst, Archer zerstört ebenso das Leben seiner jungen Frau und er lebt doch Jahrzehnte mit ihr zusammen, in einer besonderen Form des Glücks, einem verordneten Glück. Die beiden haben Kinder. Er zerstört Ellens Leben und sie zerstört ihr eigenes. Die unsichtbare, aber umso skrupelloser wirkende Macht der Regeln der Gesellschaft, die alle – Archer, Ellen, erst recht May – akzeptiert und verinnerlicht haben, setzt sich über alle Leidenschaften hinweg. May erscheint Archer als nicht besonders intelligente junge Frau, die im Leben der Familie aufgeht. Aber May weiß fast von Anfang an um Archers Liebe zu Ellen. Sie akzeptiert dies unter der Voraussetzung, dass ihre Ehe aufrecht erhalten bleibt und die Pflichten erfüllt werden, die beide zu erfüllen haben. Sie nimmt sogar an, Archer habe ein sexuelles Verhältnis mit Ellen, was er aber nie hatte und nie haben wird. Ellen scheitert schließlich an ihren Versuchen, als freier Mensch in New York zu leben. Sie bewahrt sich ihre Freiheit, indem sie nicht zu ihrem Mann zurückkehrt, sondern sich in Paris niederlässt. Kurz bevor May stirbt, sagt sie ihrem Sohn, dass er einen guten Vater habe, der das, was er am meisten in seinem Leben liebte, für sie und ihre Kinder aufgegeben habe.
Zu den großartigsten Momenten dieses Films zählen die, in denen Daniel Day-Lewis und Michelle Pfeiffer zusammentreffen. Vom ersten Augenblick an spürt man die innere Verbundenheit, die grenzenlose Leidenschaft, die Ellen und Newland füreinander empfinden. Sie sitzen während eines Empfangs auf einem Sofa, sprechen miteinander, anständig, wie es sich gehört. Aber ihren Blicken, unscheinbaren Bewegungen, ihrer Mimik ist deutlich zu entnehmen, was in ihnen vorgeht. Und: Jeder weiß es und keiner spricht darüber. Michelle Pfeiffer spielt diese nach Freiheit drängende Frau, die an den Konventionen der New Yorker Gesellschaft scheitert, weil sie sie nicht akzeptieren kann und will, mit einem unglaublichem Gespür für eine solche Situation. Sie strahlt in diesen Momenten vor innerer Schönheit, Verzweiflung und Leidenschaft zugleich. Die Begegnungen zwischen Ellen und Newland sind erotische Zusammenkünfte. Die beiden „schlafen“ miteinander, ohne auch nur ein Kleidungsstück abzulegen. Solche Momente sind mit die aufregendsten der Filmgeschichte.
Archer und Ellen scheitern an den sozialen Codes, die ihnen von Geburt an beigebracht worden sind. Es gibt keine Flucht für sie, nicht unbedingt, wie Ellen an einer Stelle meint, weil sie nicht wissen wohin sie fliehen sollten, sondern weil sie Fliehen nicht gelernt haben. Auch ihre Rückkehr nach Paris ist nicht eigentlich eine Flucht, sondern ein Rückzug, eine Kapitulation. Das Ende des Films lässt die spezifische soziale Codierung der Hautevolee New Yorks unwichtig werden. Es enthüllt sich der allgemeine zivilisatorische Kontext von ausgefeiltem tradiertem, codiertem Verhalten und den nach Unabhängigkeit strebenden Emotionen, Leidenschaften, die sich nicht einzwängen lassen wollen, sich aber gegen die Macht der Regeln nicht durchsetzen können.
„Zeit der Unschuld“ – Die Handelnden sind alles andere als unschuldig. Nur, die Frage von Schuld und Unschuld stellt sich als komplexer und komplizierter dar, als sie gemeinhin gefasst wird. Archer macht sich schuldig, weil er eine Frau heiratet, die er zwar mag, aber nicht liebt, eine andere liebt, aber nicht mit ihr lebt. Diese Verwicklung von persönlicher und „strukturell bedingter“ Schuld und Unschuld stellt sich am Ende als etwas von den konkreten historischen Umständen teilweise unabhängiges heraus. Scorsese enthüllt die menschlichen Hoffnungen, Sehnsüchte, Wünsche, die wir letztlich alle haben und an denen auch wir heute noch oft scheitern, weil wir uns durch die angeblich so vernünftigen Regeln, die das Leben oft nur einzwängen, hindern lassen und selbst hindern.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.