„Frühling kommt, der Sperling piept, Duft aus Blütenkelchen! Bin in einen Mann verliebt und weiß nicht in welchen! Ob er Geld hat, ist mir gleich, denn mich macht die Liebe reich! Kinder, heute abend, da such ich mir was aus einen Mann, einen richtigen Mann! Kinder, die Jungs häng'n mir schon zum Halse raus, einen Mann, einen richtigen Mann! Einen Mann, dem das Herze noch in Lieb' erglüht einen Mann, dem das Feuer aus den Augen sprüht!! Kurz: einen Mann, der noch küssen will und kann einen Mann, einen richtigen Mann!” (1)
Josef von Sternbergs Adaption des 1905 erschienenen Romans Heinrich Manns „Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen” – neben seinem „Der Untertan” (1906-14/1918) ein Stück Weltliteratur – weicht, trotz der Zustimmung Manns zu der Interpretation der Geschichte im Film, doch in weiten Teilen von der Schärfe, satirischen Zuspitzung und vor allem im Schluss deutlich werdenden doppelsinnigen Kritik der wilhelminischen Gesellschaft ab. Trotzdem zählt „Der blaue Engel” zu Recht zu den bedeutendsten Filmen der Weimarer Zeit. Die Handlung ist in sich geschlossen, eine exzellente Crew an Schauspielern, allen voran Emil Jannings und Marlene Dietrich, die ebenso bezaubernde, längst weltberühmte Filmmusik Friedrich Hollaenders, die düsteren, schummrigen Bilder Günther Rittaus, das dementsprechende Szenenbild – all das macht „Der blaue Engel” zu einem frühen „Kultfilm”.
Während Mann im Roman einerseits die dekadente, brüchige Doppelmoral und Engstirnigkeit der (klein-)bürgerlichen Verhältnisse, andererseits einen diese Verhältnisse zunächst tragenden, dann aber – über die Bekanntschaft mit der Tänzerin Rosa (im Film Lola) – gegen diese Gesellschaft mit anarchistischen Mitteln rebellierenden Professor Unrat zeigt, der am Schluss (durch einen Diebstahl) von den Mechanismen der wilhelminischen Sozialstrukturen wieder eingeholt wird, endet Unrat im Film als der Lächerlichkeit preisgegebener Dummkopf, der sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder als Schulmeister tätig zu werden.
„Ein rätselhafter Schimmer, Ein je ne sais-pas-quoi’ Liegt in den Augen immer Bei einer schönen Frau. Doch wenn sich meine Augen. Bei einem vis-à-vis. Ganz tief in seine saugen. Was sprechen dann sie?: Ich bin von Kopf bis Fuß. Auf Liebe eingestellt, Denn das ist meine Welt. Und sonst gar nichts. Das ist, was soll ich machen, Meine Natur, ich kann halt lieben nur. Und sonst gar nichts.” (2)
Professor Immanuel Rath (im Roman: Raat; Emil Jannings) hat einen geordneten Tagesablauf und lebt in „seiner” bis ins kleinste Detail geordneten Welt. Als strenger Gymnasialprofessor führt er ein hartes Regiment in seiner Klasse männlicher Schüler, bei denen er den Spitznamen Unrat trägt. Als er von einem Schüler, dem Klassenprimus, erfährt, dass sich einige seiner Schüler abends in einer Spelunke namens „Der blaue Engel” herumtreiben, ist Rath entschlossen, diesem Treiben ein Ende zu bereiten. Er begibt sich in die Kneipe, in der leicht bekleidete Damen frivole Lieder zum besten geben und mehr zeigen, als die öffentliche Moral erlaubt.
Dort lernt Rath, vor dem seine Schüler noch einmal im letzten Moment entkommen können, die Tänzerin und Sängerin Lola (Marlene Dietrich), den Direktor und Zauberer Kiepert (Kurt Gerron), dessen Frau Guste (Rosa Valetti) und den stummen Clown (Reinhold Bernt) kennen. Während Rath beim ersten Besuch im Blauen Engel noch zurückhaltend reagiert, ist er beim nächsten Mal bereits in einer Mischung aus Neugier und nur noch leicht distanzierter Haltung angetan vom Milieu – vor allem aber von Lola. Er schmeißt einen Kapitän (Wilhelm Diegelmann) hinaus, der sich Lola auf eindeutige Weise nähert, und beschimpft ihn als Mädchenhändler.
Kiepert stellt Rath dem Publikum als Ehrengast vor, Rath trinkt, amüsiert sich – und übernachtet bei Lola. Es dauert nicht sehr lange und Rath ist entschlossen, Lola zu heiraten, seine Position als Gymnasialprofessor aufzugeben und sich der Tingeltangel-Truppe Kieperts anzuschließen.
Doch das Leben als Mann an der Seite einer Tänzerin wird für Rath zu einer Qual. Als die Truppe Jahre später in die Heimatstadt Raths zurückkehrt und der Direktor verlangt, Rath solle als sein Gehilfe auf der Bühne auftreten, kommt es zur Katastrophe.
„Männer umschwirr'n mich, wie Motten um das Licht. Und wenn sie verbrennen, ja dafür kann ich nicht. Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, ich kann halt lieben nur und sonst gar nichts. Was bebt in meinen Händen, in ihrem heißen Druck? Sie möchten sich verschwenden. Sie haben nie genug. Ihr werdet mir verzeihen, ihr müsst' es halt versteh'n. Es lockt mich stets von neuem. Ich find' es so schön!” (2)
Emil Jannings (der nach 1933 zu einem Protagonisten des NS-Regimes wurde, etwa in den Propagandafilmen „Der alte und der junge König”, 1935; „Ohm Krüger”, 1941) spielt einen Professor Unrat in alle seiner Widersprüchlichkeit zwischen konservativer, reaktionärer Weltanschauung und der durch die Bekanntschaft Lolas ausgelösten unbändigen Leidenschaft zu einer von ihm fast heroisierten wesentlich jüngeren Frau. Rath wird mit seiner, wie Mann schreibt „überreizten Zärtlichkeit des Menschenfeindes” letztlich nicht fertig. Seine ganze Erziehung, in der „eine einflussreiche Kirche, ein handfester Säbel, strikter Gehorsam und starre Sitten” (Mann) die Hauptrollen spielen, gerät nicht nur ins Wanken. Er begreift nicht, dass sich noch in der „Unterwelt” des Frivolen, Erotischen, Anzüglichen, in den abseits gelegenen, offiziell gemiedenen und von der öffentlichen Moral verurteilten, insgeheim aber begehrten Quartieren des Lasters seine eigene Welt sozusagen negativ widerspiegelt.
Jannings, der in den 20er Jahren etliche Filme bei der US-amerikanischen Paramount gedreht hatte, spielt diesen Protagonisten des Obrigkeitsstaates vor allem ausdrucksstark in seiner Mimik. Seinem Gesicht ist förmlich anzusehen, was in ihm vorgeht.
Marlene Dietrich, die durch diesen Film auch international bekannt wurde, spielt eine frivole, andererseits aber auch durch Mitgefühl geprägte Frau, die sich nach bürgerlicher Sicherheit sehnt und aus diesem Grund in die Heirat mit Rath einwilligt. Er ist der erste Mann in ihrem Leben, der sie verteidigt, sie beschützt, statt nur etwas von ihr zu wollen.
Auch die anderen Mitglieder des Tingeltangels kümmern sich um den Professor, und erst als Rath mit diesem Leben nicht mehr zurecht kommt, gehen sie auf Distanz, weil sie sein Verhalten nicht verstehen können.
Heinrich Mann stellt Rath in seinem Roman nicht wirklich als ausgeprägte Feindfigur und nicht allein als Personifikation des Hasses auf eine erstarrte wilhelminische Gesellschaft dar, sondern, wie er selbst einmal sagte, als „dieses lächerliche Scheusal”, das „doch einige Ähnlichkeit mit mir (hat)”. In der Romafigur erscheint Rath daher als Verkörperung des „Ganzen” einer Gesellschaft, in der selbst im Verhalten des Rebellen noch die Prägung durch die reaktionäre Sozialisation durchscheint. Im Film lässt von Sternberg Rath auf andere Art scheitern: Er wird der Lächerlichkeit preisgegeben; er scheitert auf der ganzen Linie, und letztlich ist es Mitgefühl mit dem „Menschenfeind”, was am Ende als Eindruck bleibt.
(1) Kinder, heute abend, da such ich mir was aus
(Musik: Friedrich Hollaender, Text: Robert Liebmann)
(2) Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt
(Text und Musik: Friedrich Hollaender)