Während David Lynch für „Wild at Heart" (1990) in Cannes die Goldene Palme entgegennehmen konnte, kamen ihm und seinem Film von Seiten der Kritik wenige gute Worte zu. Dass er jedoch mit seiner Verfilmung des Romans von Barry Gifford den Zeitgeist getroffen hat, darin waren und sind sich noch immer alle einig.
Irgendwo in der Nähe der Grenze zwischen North und South Carolina. Wir befinden uns in einem Theater, vielleicht einem Opernhaus, mit hohen, kunstvoll mit Fresken übersäten Deckengewölben. Der Blick schwebt über die Malereien und neigt sich einem Treppenaufgang. Oben, in ein lachs- bis sandbraunfarbenes Kleid geworfen, wartet ein Mädchen von 20 Jahren, eine Lolita. Dort kommt ihr Freund, gibt ihr einen vertrauten Kuss; sie gehen die Treppe hinab. Ein Mann folgt ihnen, wird schneller. Er spricht Sailor an. Am Kopf der Treppe steht, etwas in den Hintergrund getreten, eine blonde Frau, indigoblaues Abendkleid; sie scheint nervös. Ob er Marietta habe ficken wollen, ob Sailor etwa die Mutter seiner Alten ficken wollte, fragt der Mann. Er zieht ein Messer, es springt auf. Lula schreit: „Sailor! Er hat ein Messer!" Die Musik schlägt um: Der festliche Jazz von zuvor pervertiert, Metal-Klänge schlagen los, „Powermad" fährt Sailor in die Glieder: Er tötet den Angreifer, spaltet seinen Schädel auf dem Treppenabsatz. Rot der ausgelegte Teppich, rot das Blut des Toten.
„Das Buch war genau das Richtige zur richtigen Zeit." (David Lynch)
Die Wildheit der Menschen, bisher durch Normen der Gesellschaft unterdrückt, in den Käfig der eigenen Wände gekerkert, bricht sich in den beginnenden 90er Jahren bahn. Der Irrsinn des Kerns wandert schrittweise an die Oberfläche und wird sichtbar - filmisch. Besonders augenfällig die Kriminellen, angefangen bei Marcello Santos, dem Gangsterboss, sich über kleinere Handlanger fortsetzend bis hin zu burlesken Überzeichnungen à la Bobby Peru, welcher nicht per Zufall an den Frank Booth (Dennis Hopper) aus Lynchs Blue Velvet (1986) erinnert. Ziel war es für Lynch, eine Welt zu präsentieren, die „wild at heart and weird on top" ist.
Als Sailor (Nicolas Cage) aus der 22-monatigen Haft entlassen wird, die er wegen des Totschlags absitzen musste, steht Lula (Laura Dern) schon zu seiner Abholung bereit. Sie macht ihm keinen Vorwurf; ihre Liebe ist ungebrochen. Doch noch immer steht Marietta (Diane Ladd) im Hintergrund, missbilligt die Beziehung und möchte Sailor noch immer tot sehen. Sie beauftragt ihren heimlichen Geliebten, Johnny Farragut (Harry Dean Stanton), Sailor zu finden und zu töten, der sich mit Lula bereits auf der Flucht vor Marietta und ihren Spießgesellen befindet. Zusätzlich nimmt sie Marcello Santos die Bitte ab, sich um die Ermordung Sailors zu kümmern; Santos seinerseits hat jedoch größeres Interesse, Johnny aus dem Weg zu schaffen, um sich endlich mit Marietta verbinden zu können. Damit ist die Saat gesetzt, sind die grundlegenden Verflechtungen angelegt, und eine leidenschaftliche Jagd auf zwei sich innig Liebende kann beginnen. Es ist dies die Geschichte von Sailor und Lula.
Wenn nun die beiden in einem Cabriolet über die von Wüste und Ödland umgebenen Highways von Stadt zu Stadt ziehen, ahnend, dass hinter ihnen im aufgewirbelten Wüstenstaub die Bluthunde ihre Fährten suchen, entspinnt sich ein episodenhaftes Road Movie, das, unterbrochen von Rückblenden und Parallelmontagen, in den Milieus verschiedener städtischer Gesellschaften das Bild einer bizarren Welt zeigen will, wo das Innerste zum Äußeren geworden ist und die Moral allmählich verkommt.
Sailor ist ein rebellischer Typ und, was nicht zuletzt seine Lederjacke als das Symbol seiner Individualität und persönlichen Freiheit verdeutlicht, ganz er selbst; ebenso Lula, für Lynch eine, wiewohl sehr feminine, so doch starke und Sailor ebenbürtige Frau. Ihre Harmonie, im Film visualisiert in den sich häufig wiederholenden Szenen des Liebesaktes, dem gemeinsamen, genussgierigen Rauchen (Sailor raucht, einen neuen, aber dezidierten Männertypus verkörpernd, Marlboros), kulminiert gleichsam in jener Wüstenszene, wo das Bizarre der äußeren Welt, über das Radio ins ganze Land getragen, Lula derart infiziert, ihr die übermittelten Leiden quasi einpflanzt, dass schließlich Sailor zu ihrer geistigen Rettung einen geeigneten, sauberen Radiosender finden muss. Da ist er; wieder die Musik von „Powermad": Sie lassen los, sind ganz in ihrer Welt; keine Hemmnisse, keine Regeln mehr. Nun tanzen sie im Wüstensand, vollführen mit ihren Beinen Kicks und Bewegungen, die an Karate erinnern, biegen sich und springen zu den wilden Lauten der Musik, deren ganzheitliche Resonanzkörper sie sind. Gleichviel wie individualistisch beide sind, hat doch ihre Umwelt auch auf sie Einfluss...
Bobby Peru ist hierin der Fortgeschrittenste, der am stärksten Entartete. Wie schon Frank Booth in „Blue Velvet" ist auch er das visualisierte Symptom verfallener Sittlichkeit, ein stinkend, schreiend Wesen, das den feinen Sinn beleidigt. Diese Ausgeburt, wiewohl als Abglanz natürlicher Züge des Charakters oder als Konstrukt, in dem das Abartig-Artentypische kumuliert, konzipiert, will weder auf ebendiese Weise noch als Wiederaufnahme der Booth-Figur so recht funktionieren. Und das liegt nicht etwa am fast parodistisch agierenden Willem Dafoe, sondern an jener Verwachsenheit seiner Person mit dem allgegenwärtig waltenden System der Kriminalität, das sich durch dieses Werk zieht wie Kaugummi und gerade deshalb als Panoptikum einer absurden Realität und Wirklichkeit nicht funktionieren kann.
Als wäre die Geschichte von Sailor und Lula nicht genug und hätte lediglich einer Ausweitung und tiefer gehenden Studie bedurft, fügt Lynch, sei es einer seiner legendären Ideen gedankt, zahlreiche Verweise auf „Der Zauberer von Oz" (1939) ein. „Ich liebe ‚The Wizard of Oz', und irgendwann kam mir, dass Sailor und Lula zu der Art von Leuten gehören, die sich ein solches Märchen aneignen und was echt Cooles draus machen", sagt er, nach der Bedeutung der Parallelen im Film gefragt. Ohne Frage lassen sich einige der Verschmelzungen beider Märchen sehen, doch notwendig sind sie, auch da von surrealer Kraft hier keine Rede sein kann, eben doch nicht. Vielleicht krankt der Film an fehlender Muße in der Vorbereitung, vielleicht hätte Lynch sich bei dem Drehbuch etwas mehr Zeit lassen sollen, um sich Gedanken zu machen über seine Welt. Obgleich in der Anlage der Charaktere der große Pluspunkt des Films liegt, was dem Roman geschuldet sein mag, offenbart uns Lynch mit seinem Happy End, dass er sie, die Hauptpersonen betreffend, falsch, mindestens verwirrend zu Ende gedacht hat. Was an Diskrepanzen zwischen Sailor und Lula aufkeimt und in einem weiteren Gefängnisaufenthalt manifestiert wird, kann nur mit falschem Verständnis in jener berüchtigten Szene enden, da Sheryl Lee als gute Fee die konsequente Trennung von Sailor und Lula in fröhlich-pathetische Zweisamkeit und ein von Nicolas Cage gesungenes „Love me tender" verkehrt.
Hingegen zweifellos gelungen ist die Musikauswahl, die, mit Auszügen aus Richard Strauss' „Vier letzte Lieder" beginnend, reichlich im Jazz und im Rock 'N' Roll der 50er Jahre verweilend und immer wieder zu Angelo Badalamentis an „Twin Peaks" erinnernden Score zurückkehrend, in den Klängen von „Powermad" kulminiert und im Gegensatz zur inhaltlichen Szenengestaltung auf gelungen Weise ein weites Spektrum von Menschen, Ideen und Lebensarten kreiert.
So entwirft Lynch eine von väterlichem, mit kriminellem Gestank versetztem Feuer durchzogene, gelungene Charakterstudie über eine Liebe, die unter unwirtlichen, bedrohlichen Bedingungen zu bestehen versucht. Ein wenig mehr Ruhe, ein wenig mehr Bedachtheit und Freiheit von der Romanvorlage, und ein Film wie Natural Born Killers wäre nicht vonnöten gewesen.