Es ist nun wirklich kein Spaß, das Debüt „Der Wald vor lauter Bäumen“ der Hff-Absolventin Maren Ade zu sehen und dennoch geht von dem Film eine irre Faszination aus, die lange nachwirkt. Als Fernsehfilm für den SWR produziert, lief er sehr erfolgreich auf diversen Festivals und kommt nun also auch in die Kinos.
Die junge Lehrerin Melanie Pröschel (Eva Löbau) beginnt nach der Trennung von ihrem langjährigen Freund ein neues Leben in Karlsruhe. Sie steht das erste Mal auf eigenen Füßen, zieht weg vom provinziellen Zuhause und hat den dringenden Wunsch, alles richtig zu machen. Doch in der fremden Stadt fällt es Melanie, die keiner Fliege etwas zu leide tun könnte, denkbar schwer, Anschluss zu knüpfen. Melanie ist der Typus von Mensch, der ein bisschen zu unsicher ist, um schnelle Freundschaften zu knüpfen und viel zu nett, um Leute vor den Kopf zu stoßen. In einer Boutique lernt sie schließlich Tina (Daniela Holtz) kennen, eine junge Frau, die bereits ein volles Leben führt. Melanie beginnt langsam aber sicher geradezu eine Freundschaft mit Tina zu erzwingen. Da die beiden Nachbarinnen sind, kann Melanie in die Tinas Wohnung schauen und beginnt immer wieder Begegnungen mit ihr zu provozieren.
Gleichzeitig lässt sie diese als puren Zufall erscheinen. Doch wegen den verzweifelnden Bemühungen, dazugehören zu wollen, bemerkt Melanie nicht, dass ihre Nachbarin eigentlich kein Interesse an einer ernsthaften Freundschaft mit Melanie hat, ebenfalls nur nett sein möchte und Melanie nicht offen sagen kann, dass sie nervt. Jeder Blinde kann sehen, dass die beiden Frauen sowieso wenig Gemeinsamkeiten haben. Gleichzeitig hat Melanie allerdings auch in der Schule große Schwierigkeiten, ihre Klassen unter Kontrolle zu bringen und schließlich wird sie immer weiter in die Ecke einer Lehrerwitzfigur gedrängt. Doch das Schlimmste ist, dass Melanie sich niemandem anvertrauen kann und bald scheint es keinen Ausweg mehr aus einer festgefahrenen Situation zu geben, die eigentlich nur dadurch entsteht, dass Melanie nicht wirklich in diese Welt zu passen scheint.
Die Frau, die hier geschildert wird, ist jedem bekannt. Maren Ades Film zeigt eine Person, die anruft und fragt, was heute Abend noch so ansteht, obwohl sie genau weiß, dass sie eher nicht erwünscht ist. Melanie ist die Frau, die immer nur helfen will, aber den Zeitpunkt denkbar schlecht wählt. Sie ist die Frau, die unendlich nervt und niemand würde ihr das jemals sagen. Aus zwei Gründen: erstens, weil sie einem nicht so nahe steht, als dass es wirklich etwas bedeuten würde und zweitens, weil sie es wahrscheinlich nicht versteht. Denn sie ist die Art von Mensch, der um jeden Preis geliebt werden will, dabei die Realität zu einer Wunschvorstellung macht und somit unweigerlich von einem Fettnäpfchen ins nächste tritt. Maren Ade geht es jedoch um ein größeres und ehrlicheres Bild, das eher einem Riesenfetteimer gleicht und schließlich nur in einem Desaster enden kann. Dabei erlebt der Zuschauer eine knallharte Realität, die durch die schonungslose DV-Kamera nur noch verstärkt wird. Oftmals schleicht sich das Gefühl ein, direkt am Geschehenen beteiligt oder gar schuld zu sein, die Bilder sind zu bekannt, die Muster vorhersehbar und deshalb so qualvoll und beschämend. Faszinierend ist, dass Melanie trotz allem eine Protagonistin ist, die einen fesselt, weil sie nur in den Arm genommen werden möchte. Der Film erzählt durchweg aus Melanies Perspektive heraus und deshalb erschließt sich der Eindruck, dass vor allem die Umwelt eine Mitschuld an ihrem Problem trägt. Durch das sehr filmisch inszenierte Buch wiederum wird hier allerdings in keinem Fall Sozialkritik mit erhobenem Zeigefinger betrieben.
Ganz im Gegenteil: „Der Wald vor lauter Bäumen“ hat eine sehr hohe künstlerische Qualität, die sich vor allem in den Schauspielern widerspiegelt. Die Hauptdarstellerin, Eva Löbau, trägt im wesentlichen zum Gelingen dieses schwierigen Experiments bei, und die sorgfältig geschriebenen, fast wie improvisiert wirkenden Dialoge, welche alle stets mit schwäbischem Dialekt gesprochen sind, transportieren eine unverblümte Echtheit. Wie schwierig die Dreharbeiten für die Hauptdarstellerin in einer solchen Situation und unter diesen realistischen Bedingungen gewesen sein müssen, lässt sich hier nur vermuten. Alle Nebenfiguren sind sehr genau gezeichnet und inszeniert. Angefangen bei Melanies Kollege Thorsten (Jan Neumann), der ein echtes Interesse an der jungen Lehrerin hat und dies auch offen zeigt. Doch für Melanie scheint er genau die nervende Person zu sein, die sie selbst für Tina darstellt. Ohne es zu wissen, verbirgt sich dahinter eine tragische Ironie.
Daniela Holtz ist Tina und ebenfalls eine echte Entdeckung. Sie spielt ihre Figur mit vielsagenden Blicken, scheint nicht recht zu wissen, wie mit Melanie umzugehen ist, traut sich aber auch nicht direkt zu sagen, was sie von ihr denkt, bis ihr das Verhalten von Melanie immer unheimlicher wird. Weitere Lichtblicke sind ein kurzer Auftritt von Ilona Christina Schulz, als Mutter eines Schülers, der Melanie aus Frust mit Kakao beworfen hat. Die Mutter gibt sich und ihrem Sohn selbstverständlich überhaupt keine Schuld an dem Vorfall und schiebt überheblich den schwarzen Peter der unsicheren Lehrerin zu. Nach dem Motto: Suchen Sie sich einen anderen Job, wenn Sie nicht damit umgehen können. Die gesamten Klassenzimmerszenen sind ebenfalls beängstigend realistisch inszeniert, was vor allem an den großartigen Kindern liegt.
Wäre „Der Wald vor lauter Bäumen“ ein amerikanischer Hollywoodstreifen, wäre Melanie die psychopathische Nachbarin, vielleicht eine Glenn Close aus „Eine verhängnisvolle Affäre“ und würde am Ende in einer Blutlache in der Badewanne liegen. Doch den Schluss gestaltet Ade dann schließlich völlig anders und auch das macht deutlich, dass es sich nicht um eine reine Charakterstudie handelt, denn es ist plötzlich Poesie im Spiel. Auch scheint es fast, als wolle sie die Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation wie Melanie befinden, nicht vor den Kopf stoßen. „Der Wald vor lauter Bäumen“ ist ein Film im Stil des amerikanischen Independent-Kinos, wie es noch vor zwanzig Jahren war (z. B. die frühen Filme von John Sayles) und hat dennoch einen durch und durch deutschen Bezug.
Ade erzählt ihren Film vollkommen aus sich und der Geschichte heraus. Sie verweigert sich konsequent, Bezug auf andere Filme zu nehmen und hat somit als junge Autorin und Regisseurin eine originelle Geschichte direkt aus dem Leben erzählt, mit lokalen Bezügen und trotz psychologischem und soziologischem Widererkennungswert, vollkommen ohne Klischees. Doch Vorsicht: Dieser Film ist gerade deshalb nichts, was sich zwischen „Bridget Jones – Am Rande des Wahnsinns „ oder Disneys „Die Unglaublichen“ leicht verdauen lässt. Obwohl der Film eine Protagonisten begleitet, die in keinem Fall eine Sympathieträgerin ist (der Zuschauer widersteht nicht selten dem Drang sie an den Schultern zu packen und kräftig zu schütteln!), ist er dennoch eines der interssantesten deutschen Spielfilmdebüts der letzten Dekade. Nicht zuletzt wegen einem unantastbar gutem Buch sowie Akteuren, die selten so real und unter die Haut gehend ihre Kunst verstehen und einer Regie, die, wenn nicht eine gestochen Scharfe Beobachtungsgabe, vor allem Mut beweist. Unbedingt anschauen!