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    Mysterious Skin – Unter die Haut
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Mysterious Skin – Unter die Haut
    Von Björn Becher

    Es gibt sie immer wieder diese Filme, jedes Jahr. Es sind Filme, die von einem Großteil der Kritiker hoch gelobt werden, die auf Festivals das Publikum beeindrucken, es aber dann nicht in die deutschen Kinos schaffen, sondern erst nach einer Weile auf DVD veröffentlicht werden. Oft trägt der mangelnde Kinoerfolg in den USA die Schuld, oft hat man auch Angst, dass Thema sei zu komplex. Bei Donnie Darko spielte zum Beispiel beides eine Rolle. „Mysterious Skin“ von Gregg Araki, der mit Filmen wie „Nowhere“, „The Doom Generation“ und „Splendor“ eine Fangemeinde um sich scharen konnte und gleichzeitig in erzkonservativen Kreisen zur „persona non grata“ avancierte, ist ein ähnliches Schicksal wie Donnie Darko wiederfahren. In beiden Filmen stehen junge, heranwachsende Männer und ihre Probleme mit der Gesellschaft im Mittelpunkt. Hier enden allerdings die Gemeinsamkeiten, abgesehen von einer Ausnahme: Auch „Mysterious Skin“ ist ein großartiger Film, der ein Kinorelease mehr als verdient gehabt hätte.

    Im Sommer 1981 verändert sich das Leben zweier achtjähriger Jungen so, dass die Ereignisse dieses Sommers ihr ganzes Leben prägen sollen. Brian Lackey (George Webster) erlebt einen Blackout. An die letzten fünf Stunden fehlen ihm jegliche Erinnerungen, als er mit Nasenbluten im Keller aufwacht. Als er wenig später eine UFO-Sichtung hat, ist für ihn klar, dass er von Außerirdischen entführt wurde. Der gleichaltrige Neil McCormick (Chase Ellison, „End Of The Spear“) findet schon von klein auf nackte Männerkörper anziehend, doch das ist nichts gegen das, was der Anblick seines Baseballcoachs (Bill Sage, American Psycho) in ihm auslöst. Überraschend erwidert der sogar seine Gefühle und fängt mit dem Jungen eine Beziehung an. Zwei Jahre später überschneiden sich wieder zwei Ereignisse im Leben der beiden Kinder. Neil verpasst einem geistig zurückgebliebenen Jungen einen „Blow Job“, Brian hat in jener Halloween-Nacht wieder einen Blackout, glaubt an eine weitere Entführung durch Aliens.

    Zehn Jahre nach den schicksalhaften Ereignissen des Sommers 1981 haben sich beide zu grundverschiedenen jungen Männern entwickelt. Der selbstbewusste Draufgänger Neil (nun gespielt von Joseph Gordon-Levitt, Brick) vergnügt sich als Stricher und weist keinen Kunden zurück. Brian (nun: Brady Corbet, Dreizehn) ist ein verpickelter, bebrillter Eigenbrötler, der immer noch seinen UFO-Phantasien nachhängt. Durch den Kontakt zu Avalyn Friesen (Mary Lynn Rajskub, Firewall), einem weiteren „UFO-Opfer“, erkennt er, dass er in seinen Träumen immer wieder einen Jungen sieht: Neil! Er macht sich auf die Suche nach diesem, doch der hat just davor das langweilige Kleinstadtnest verlassen, um seiner besten Freundin Wendy (Michelle Trachtenberg, Eurotrip) nach New York zu folgen.

    „Where normal people have a heart, Neil McCormick has a bottomless black hole. And if you don't watch out, you can fall in and get lost forever.“ (Wendy über ihren Freund Neil)

    Auch mit „Mysterious Skin” hat es Gregg Araki geschafft, in konservativen amerikanischen Kreisen sich weiter Feinde zu machen. Die unverblümte Sprache und Darstellung seines Inhalts hat hierfür gereicht. Der ihm vereinzelt gemachte Vorwurf, er würde mit seinem Film Pädophilie abmildern, läuft allerdings völlig ins Leere. Denn es gibt nur wenige Filme, die so eindrucksvoll, nachdrücklich und erschreckend die Grausamkeit dieses Verbrechens aufzeigen. Das Besondere ist dabei die frische und unerwartete Herangehensweise des Regisseurs, der sich völlig auf die Sichtweise der Opfer konzentriert und die Sicht der „Erwachsenen“ fast völlig ausblendet und weiter geht als die meisten vergleichbaren Filme.

    Zum einen haben die ersten Kontakte zwischen dem Coach und Neil etwas Verspieltes und fast Romantisches. Erst nach und nach zeigt sich die Grausamkeit des den ganzen Film über namenlos bleibenden Baseballtrainers. Zum anderen setzt Araki auf die Erzählung von zwei Geschichten zweier unterschiedlicher Jungen. Trotz der vorhandenen Berührungspunkte scheinen beide Geschichten erst parallel und unabhängig voneinander zu sein. Man bekommt fast zwei Filme zum Preis von einem, beide dabei atmosphärisch dicht inszeniert und fesselnd. Als beide Stränge dann noch ineinander verlaufen, wird „Mysterious Skin“ endgültig hochklassig.

    Die normalerweise, vorhandene eindeutige moralische Anklage des Verbrechens fehlt. Solche Momente finden sich nur zwischen den Zeilen. Dies ist riskant und kann zu falschen Auslegungen des Films führen, erfüllt aber bei mit denkenden Zuschauer seinen Zweck. Dieser wird gefordert, sich mehr auf den Film einzulassen, sich mit ihm auseinanderzusetzen, weil er nicht alles auf dem Silbertablett serviert bekommt. Umso nachdrücklicher ist dann die Wirkung.

    Mit der inhaltlichen Klasse geht erfreulicherweise auch die Formale einher. Araki und sein Kameramann Steve Gainer („Bully“) finden immer wieder eindrucksvolle Bildeinstellungen und nehmen sich auch mal den Raum für Zwischenszenen, wie Aufnahmen der Mutter, die im einen Moment noch im Garten auf Flaschen schießt, um in der nächsten Szene zu häkeln. Die kontroversen und offenherzigen Bilder entfalten so eine zusätzliche Kraft. Zudem verzichten sie glücklicherweise auf die bei ähnlich gelagerten Filmen mittlerweile überhand nehmende Wackelkamera gepaart mit dunklen Bildern, die dem Ganzen einen pseudo-dokumentarischen Look geben sollen. Stattdessen wird genau der entgegengesetzte Weg beschritten und Ästhetik bei der Bildsprache groß geschrieben. So bilden die wunderschönen Bilder einen guten Kontrast zum Inhalt.

    Zusätzliche Kraft geht auch von den blendend besetzten Hauptdarstellern aus. Joseph Gordon-Levitt, jüngst auch für seine Vorstellungen in Havoc und Brick mit reichlich Kritikerlob bedacht, hat – wie er hier eindrucksvoll zeigt - das Zeug zu einer ganz großen Schauspielerkarriere und es ist zu wünschen, dass er solch schwierigen, aber hervorragenden Filmen treu bleibt. Brady Corbet wirkt dagegen zwar etwas blasser, was zum einem dem überragenden Spiel von Gordon-Levitt und dem etwas stärkeren Fokus des Films auf dessen Charakter geschuldet ist, trumpft aber in den richtigen Momenten, vor allem im noch lange in Erinnerung bleibenden Finale, auf.

    „Mysterious Skin“ ist in Deutschland noch ein Geheimtipp. Aber das war Donnie Darko, um zum letzten Mal den unsäglichen Vergleich zu bemühen, bis vor einiger Zeit auch noch und hat diesen Status bei Filminteressierten schon lange verlassen. Das einen noch lange über den Film“genuss“ hinaus beschäftigende Drama (die Kategorisierung als „Thriller“ auf der DVD-Hülle ist völlig verfehlt) hat auf jeden Fall das Zeug dazu, diesen Status auch hinter sich zu lassen und trotz all seiner Offenheit, des Raums für Kontroversen und der aufgrund von viel nackter Haut erfolgten hohen Altersfreigabe (ab 18 Jahren) bei einem breiten Publikum Akzeptanz zu finden. Ein Film, der schockiert, aber auch positiv berührt.

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