Wenn sich ein 60-jähriger Charakterdarsteller wie Tommy Lee Jones das erste Mal an eine Regiearbeit wagt, darf man auf das Ergebnis gespannt sein. Gute Schauspieler sind nicht automatisch gute Regisseure, und die Doppelbelastung gleichzeitig in einem Film beides zu sein, tut dem Ergebnis nicht immer einen Gefallen. Jones meistert beides in dem Drama „The Burials Of Melquiades Estrada” bravourös. Als raubeiniger Cowboy im Grenzgebiet zwischen Texas und Mexiko zieht er mit unbeirrbarer Konsequenz ein Versprechen durch und stellt damit die Welt des braven US-Bürgers auf den Kopf. Mit einer skurrilen Story zeichnet Jones, todernst und urkomisch zugleich, ein kritisches Bild der realen Politik am Rand der USA.
Im texanisch-mexikanischen Grenzgebiet finden zwei Jäger die Leiche eines Mexikaners. Ohne großes Aufhebens wird der Mann in ein Gemeinschaftsgrab unbekannter illegaler Einwanderer verbuddelt. Doch Sheriff Belmont (Dwight Yoakam) hat die Rechnung ohne den Cowboy Pete (Tommy Lee Jones) gemacht. Der geradlinige Mann ist nämlich gar nicht damit einverstanden, das offensichtliche Verbrechen einfach so unter den Tisch zu kehren. Auf eigene Faust macht er den Täter, den Grenzpolizisten Mike (Barry Pepper), dingfest und zwingt ihn unsanft, ihm bei seiner Mission zu helfen: Dem ermordeten Melquiades Estrada (Julio César Cedillo) hatte er versprochen, ihn in seiner mexikanischen Heimaterde zu begraben. So zieht ein seltsamer Leichenzug, verfolgt von der Polizei, illegal über die Grenze – dieses Mal in die verkehrte Richtung, nach Mexiko, um dort die letzte Ruhestätte für den Toten zu finden.
Durch seine geschickte nonlineare Erzählweise weckt Jones ein kriminalistisches Interesse an den Ereignissen, deren Zusammenhänge sich aus den Bruchstücken erst nach und nach zusammenfügen. Dazu lässt er den Zuschauer an den verschiedenen Perspektiven der Beteiligten teilhaben und gibt damit in wenigen beiläufig angebrachten Szenen Einblicke in die Lebenssituation und die Weltsicht der Menschen, die an diesem Ort am Ende der Welt ihre Zelte aufschlagen. Die Weite der Landschaft spiegelt die Leere zwischen dem einfältig wirkenden Mike und seiner zuckersüßen jungen Frau Lou Anne (January Jones), die offensichtlicher nicht werden kann als beim Sex, der ihn notdürftig befriedigt, während sie sich um ihre Figur Gedanken macht. Wie fehl am Platz Lou Anne an dieser Zentrale der handfesten Pragmatik ist, wird ihr durch die Bekanntschaft mit der illusionslosen Rachel (Melissa Leo) klar. Während sie den Rückzug antritt und abreist, macht ihr Gatte Mike sich gezwungener Maßen auf den unbequemen Weg der Wahrhaftigkeit.
Als erste Lektion zwingt Pete ihn, den eher aus Versehen Erschossenen als Person wahrzunehmen, die weit mehr ist als eine Ziffer aus der zahllosen Menge, zu der die illegalen Einwanderer aus Mexiko im allgemeinen Bild der US-Bürger werden. Dass Pete für den einfach gestrickten Mike mehr im Sinn hat, als einen kleinen Dämpfer für das künstlich aufgebauschte Ego, wird klar, als der Leichnam Melquiades’ ausgebuddelt und aufs Pferd geschnürt wird. In umgekehrter Richtung zu den üblichen Wanderbewegungen macht sich das ungleiche Paar auf den langen Weg dahin, wo Melquiades herkommt. Wie sich aus der anfänglich tiefen Abneigung der beiden Männer nach und nach eine von Achtung getragene Zweckgemeinschaft wird, inmitten einer kargen Landschaft, in der außer dem Naturgesetz kein anderes zu herrschen scheint, schildert Jones in selten gesehener Feinheit der Beobachtung. Keineswegs ist es so, dass die Entwicklung eine geradlinige ist, die auf das verklärte Ideal der unverbrüchlichen Männerfreundschaft hinaus läuft. Den Konsequenzen seiner Handlung, die Pete in schicksalhafter Unerbittlichkeit und Klarheit verkörpert, versucht Mike, dieser noch lange nicht erwachsene Junge mit der oberflächlichen Kraft des ganzen Kerls, immer wieder zu entkommen. Fast drollig anzusehen, wenn er mitten in der Wüste einen zum Scheitern verurteilten Fluchtversuch unternimmt, den der routinierte Pete in aller Gelassenheit pariert. Doch auch der gewiefte und erfahrene Cowboy ist nicht vor Rückschlägen gefeit, und bewahrt so die Beziehung der beiden vor der Eingleisigkeit des Alleswissers gegenüber dem tumben Tor.
Das Zusammenspiel von Tommy Lee Jones und Barry Pepper ist wunderbar. Jones, der schon in den verschiedensten, auch selbstironischen Rollen zu sehen war (u.a. Auf der Flucht, Der Klient, Space Cowboys, „Men In Black“), gibt seinem Kollegen Pepper hier die Gelegenheit, seine Standardrolle als gefühlsdumpfer Kämpfer wie in Wir waren Helden oder Der Soldat James Ryan zu differenzieren. Immer deutlicher kommt unter der groben und lauten Oberfläche ein anhänglicher, Hilfe suchender Mensch zum Vorschein, der dieses andere, verletzliche Ich erst langsam zulassen kann. Bis in die Nebenrollen hinein hat Jones großen Wert auf die Besetzung gelegt. Für die viel zu oft nur in größeren Nebenrollen zu sehende Melissa Leo war dies die zweite Zusammenarbeit mit Drehbuchautor Guillermo Arriaga. Schon im viel gelobten 21 Gramm übernahm sie die Rolle der Winnie Mann.
Von Arriaga kann man durchaus noch einiges erwarten an Geschichten, die ausgetretene Pfade meiden, ohne durchgeknallt als Selbstzweck zu sein. Nach seinem Erfolg mit „21 Gramm“ wurde auch „The Three Burials Of Melquiades Estrada“ bereits 2005 in Cannes als Bestes Drehbuch ausgezeichnet. Jones erhielt für seine Darstellung dort den Preis als Bester Hauptdarsteller, beim Internationalen Filmfestival Flandern wurde der Film 2005 zum Besten gekürt. Die Idee zu einer Zusammenarbeit zwischen dem 1946 in Texas geborenen Tommy Lee Jones als Regiedebütant und Guillermo Arriaga entstand im Übrigen auf einem gemeinsamen Jagdausflug. Wenn dabei noch mehr Ideen zu so unprätentiösen, kraftvollen und am Wesentlichen bleibenden Filmen entstehen, sollte man die beiden öfter gemeinsam losschicken – überall hin, nur nicht in die Wüste.