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    Der seltsame Fall des Benjamin Button
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der seltsame Fall des Benjamin Button
    Von Julian Unkel

    Es ist eine so simple wie geniale Idee, die der große amerikanische Literat F. Scott Fitzgerald („Der große Gatsby“) in seiner 1921 erschienenen Kurzgeschichte „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ durchspielte: Wie würde das Leben eines Mannes aussehen, der rückwärts altert, also als Greis auf die Welt kommt und als Säugling stirbt? David Finchers (Alien 3, The Game) Verfilmung von Fitzgeralds Geschichte ist ein optisch wie schauspielerisch beeindruckendes Drama, dem lediglich kleinere erzählerische Mängel anhaften.

    New Orleans im August 2005: Während Hurrikan Katrina unaufhaltsam auf die Golfküste zusteuert, bittet die im Sterben liegende Daisy (Cate Blanchett) ihre Tochter Caroline (Julia Ormond), ihr aus einem Buch vorzulesen. Es ist das Tagebuch von Benjamin Button (Brad Pitt), dessen Leben untrennbar mit Daisys verwoben ist. 1918, am letzten Tag des Ersten Weltkriegs, kommt Benjamin unter - nach eigenen Worten - „ungewöhnlichen Umständen“ zur Welt: mit dem Körper eines Säuglings, aber der äußerlichen Erscheinung eines Greises. Seine Mutter stirbt während der Entbindung, sein Vater Thomas (Jason Flemyng) setzt ihn noch in derselben Nacht aus. Gefunden wird er von der farbigen Altenpflegerin Queenie (Taraji P. Henson), die ihn als ihren eigenen Sohn aufzieht und in deren Seniorenheim Benjamin seine Kindheit verbringt. Hier trifft er auch das erste Mal auf die – zumindest geistig - gleichalte Daisy (als Kind: Elle Fanning), in der er eine Seelenverwandte findet. Als Benjamin heranwächst und dabei körperlich immer jünger wird, heuert er auf dem Schlepper von Captain Mike (Jared Harris) an, hat eine Affäre mit der Frau eines britischen Spions (Tilda Swinton) und kämpft in einer Seeschlacht im Zweiten Weltkrieg. Über all die Jahre bleibt Benjamin mit Daisy in Kontakt, die inzwischen eine Karriere als Balletttänzerin begonnen hat. In der Mitte ihrer beiden Leben, körperlich nun im selben Alter, begegnen sich die beiden wieder…

    „It's a funny thing about coming home. Looks the same. Smells the same. Feels the same. You'll realize what has changed... is you.” – Benjamin Button

    Bereits seit 1994 wurde immer wieder versucht, Fitzgeralds Kurzgeschichte auf die Leinwand zu bringen. Über die Jahre waren unter anderen Ron Howard, Steven Spielberg und Spike Jonze als potentielle Regisseure im Gespräch, ehe David Fincher 2005 den Zuspruch erhielt. Gerade angesichts der beiden Erstgenannten erscheint die Wahl Finchers eigentümlich, war er doch bisher vor allem für solche düsteren und brutalen Filme wie den genial-radikalen Mindfuck Fight Club und den ebenso meisterharften Psychothriller Sieben bekannt. Und tatsächlich ist „Benjamin Button“ nun Finchers erste Regiearbeit, die in den USA nicht mit einem R-Rating versehen wurde. Doch bereits in seinem vorherigen Film Zodiac offenbarte Fincher eine neue Seite, nämlich die als ruhiger, präziser und detailversessener Geschichtenerzähler. Diese Stärke spielt Fincher auch in „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ voll aus. Mit der gleichen Akkuratesse, mit der er in „Zodiac“ bereits die späten 60er- und frühen 70er-Jahre wieder aufleben ließ, bringt er nun die 20er-, 30er-, 40er- und 50er-Jahre auf die Leinwand.

    Und noch eine weitere Gemeinsamkeit mit „Zodiac“ ist auffällig: Auch dieses Mal sind es keine einzelnen Einstellungen, man denke nur an die berühmte Kamerafahrt in Panic Room, in der die Kamera offenbar mühelos quer durchs Haus mitten durch den Griff einer Teekanne gleitet, die besonders herausstechen. Vielmehr ist es das Zusammenspiel aller Bilder, das ein stimmiges Porträt gleich mehrerer Epochen ergibt. Trotzdem ist aber natürlich auch „Benjamin Button“ nicht ganz ohne Szenen, die Finchers inszenatorisches Ausnahmetalent besonders eindrucksvoll verdeutlichen. In der Vorgeschichte zur eigentlichen Handlung, in der ein blinder Uhrmacher (Elias Koteas) nach dem Kriegstod seines Sohnes eine rückwärtslaufende Uhr baut, findet sich eine stark gefilmte Sequenz, in der das Getümmel auf dem Schlachtfeld in umgekehrter Reihenfolge abläuft. Ebenfalls besonders erinnerungswürdig ist eine großartige Montage, in der Fincher, unterlegt von einem starken Monolog Buttons, die zahlreichen, zu einem schicksalshaften Unfall führenden Aktionen kunstvoll nebeneinanderstellt.

    Mit Fitzgeralds Kurzgeschichte hat der Film - bis auf die Ausgangslage - nur noch wenig gemein. Drehbuchautor Eric Roth (München, Insider) entwickelte ausgehend von der Idee eines rückwärts alternden Menschen seine eigene Geschichte um Benjamin Button und orientierte sich dabei lediglich grob an der Originalhandlung. Ein Blick auf Roths Vita offenbart einen interessanten Eintrag – Roth zeichnet auch für das Oscar-prämierte Drehbuch zu Forrest Gump verantwortlich. Zwischen „Button“ und „Gump“ lassen sich nun zweifelsohne gewisse Parallelen feststellen. Beide Filme erzählen die außergewöhnliche Biographie eines Mannes, der von Geburt an benachteiligt ist, und dessen Mutter und Jugendfreundin seine wichtigsten Bezugspersonen sind. Auch in den Details gibt es Gemeinsamkeiten: die mütterlichen Lebensweisheiten, das Südstaaten-Setting, und die Figur des Captain Mike, die stark an Lieutenant Dan aus „Forrest Gump“ erinnert. Vor allem aber beschäftigten sich beide Filme mit den zentralen Motiven Leben und Tod, Liebe und Verlust. Dennoch ist „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ kein Abklatsch. Während Robert Zemeckis‘ Film vom unerschütterlichen Optimismus seines Protagonisten geprägt ist, gibt sich Benjamin Button weitaus melancholischer. Durch seine spezielle Situation ist er dazu verdammt, nur schlaglichtartige Beziehungen mit seinen Mitmenschen einzugehen. Bezeichnend dafür ist die Affäre mit der Britin Elizabeth (herausragend: Tilda Swinton), die - obwohl es sich um Benjamins erste Liebe handelt - besonders abrupt endet.

    Im Zentrum steht die sich über mehrere Dekaden erstreckende Beziehung zwischen Benjamin und Daisy, die unter der brutalen Gewissheit leidet, dass beide nur an einem Punkt in ihrem Leben wirklich gleichalt sein werden. Leider ist gerade diese Phase, in der Benjamin und Daisy in der Mitte ihres Lebens zusammenfinden, die schwächste des Films, und zudem die einzige, in der man „Benjamin Button“ seine Überlänge deutlich anmerkt. Nach all der Dramatik der vorangegangenen Handlung wirken die Probleme, denen sich die beiden in diesem Lebensabschnitt stellen, etwas oberflächlich und uninspiriert. Gegen Ende erreicht der Film dann aber wieder die Hochform der ersten anderthalb Stunden und mündet in einen tragischen Schlussakt, der dank Finchers sensibler Inszenierung zutiefst berührt. Wenn am Ende eine stark gealterte Daisy die große Liebe ihres Lebens als Säugling in den Armen hält, gehört das zu den bewegendsten Momenten der jüngeren Kinogeschichte.

    Für Brad Pitt ist „Benjamin Button“ nach „Fight Club“ und „Sieben“ bereits die dritte Zusammenarbeit mit David Fincher. Unter Finchers Regie läuft Pitt grundsätzlich zu Höchstform auf – sein „Fight Club“-Charakter Tyler Durden wurde kürzlich sogar vom britischen Empire-Magazin zum größten Filmcharakter aller Zeiten gewählt. Mit einer der besten Leistungen seiner Karriere drückt Pitt jederzeit glaubwürdig den Konflikt zwischen innerer Reife und äußerer Erscheinung aus. Seine zweite Oscar-Nominierung (nach 1995 für Twelve Monkeys) ist wohl nur noch Formsache. Cate Blanchett (Babel, I’m Not There) zählt zu den besten Schauspielerinnen ihrer Generation und bestätigt diesen Anspruch nun erneut. Es gehört sowieso zu Finchers Talenten, stets das Optimum aus seinem Cast herauszuholen. Egal ob Taraji P. Henson (Hustle And Flow) als Benjamins Ziehmutter, Jason Flemyng (Snatch) als sein leiblicher Vater, oder auch Julia Ormond (Fräulein Smillas Gespür für Schnee) als Daisys Tochter, die in der Gegenwart als Erzählerin fungiert: Das hochkarätige Ensemble ist bis in die kleinste Nebenrolle perfekt besetzt.

    Eine besondere Erwähnung verdienen auch die grandiosen Masken und Effekte. Brad Pitt beim Verjüngen (und später auch Cate Blanchett beim Altern) zuzusehen, versetzt regelmäßig in ähnliches Staunen wie in den 90ern das erste Auftauchen der Dinosaurier in Jurassic Park. Special Effects sind dann am besten, wenn man sie nicht als solche wahrnimmt – und hier wirkt es tatsächlich so, als sei der Film über viele Jahre hinweg entstanden. Faszinierend ist dabei nicht nur der vergreiste Pitt zu Beginn des Films. Auch die Szenen gegen Ende, in denen ein deutlich jüngerer Benjamin Button auftaucht, begeistern. In diesen sieht Pitt sieht aus wie 1991, als ihm mit Thelma & Louise der Durchbruch gelang.

    Fazit: Wegen der erzählerischen Mängel und der Längen im Mittelteil erreicht „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ nicht ganz den Status eines Meisterwerks. Dennoch hat Fincher mit dem Film etwas Großes geschaffen: handwerklich perfektes, visuell atemberaubendes, schauspielerisch gefühlsechtes und originelles Kino.

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