Wenn ich mir in einer Pressevorführung einen Film anschaue, zu dem ich anschließend eine Kritik verfassen soll, liegt immer ein Notizbuch auf meinem Schoß. Hastig und blind (man wendet die Augen ja zu keiner Sekunde von der Leinwand ab) werden dann während des Films kurze Anmerkungen hineingekritzelt. Da kommen meist schon zwei Seiten zusammen. Meine Notizen zu „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger" umfassen zwei kurze Zeilen – die erste geschrieben nach einer Minute des Films, die zweite nach rund fünf Minuten. Wenn ich danach nichts mehr niedergeschrieben habe, liegt das sicher nicht daran, dass ich die herausragende Geschichte schon durch die preisgekrönte Buchvorlage von Yann Martel kannte. Nein, es ist der Verdienst von Ang Lee. Der Oscar-Preisträger (für „Brokeback Mountain") legt mit „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger" ein herausragendes und absolut fesselndes Abenteuer-Drama vor. In eindrucksvollen und gewaltigen 3D-Bildern erzählt er eine Fabel, die so spannend, lehrreich, humorvoll, berührend und faszinierend ist, dass man alles um sich herum vergessen kann. „Life of Pi" ist einer der besten Filme des Kinojahres, zu Tränen rührend und eine optimistische und hoffnungsvolle Überzeugungstat, die dem geneigten Betrachter womöglich tatsächlich den Glauben an Gott schenken kann.
Auf der Suche nach einer denkwürdigen Geschichte für sein neues Buch besucht ein namenlos bleibender Autor (Rafe Spall) im kanadischen Montreal den gebürtigen Inder Pi Patel (Irrfan Khan), der angeblich eine solche Story auf Lager hat. Pi erzählt seinem Gast von einer lange zurückliegenden Vergangenheit: Sein Abenteuer beginnt, als er fünf Jahre alt war, noch den Namen Piscine Molitor Patel (Gautam Belur) trug und im Zoo des indischen Städtchens Pondicherry aufwuchs. Pi ist zwar Hindu, doch im Alter von 12 (nun: Ayush Tandon) lernt er das Christentum und den Islam kennen. Er folgt von nun an allen Religionen. Als Pi 17 Jahre alt ist (nun: Suraj Sharma) muss er Indien verlassen, da seine Familie nach Kanada auswandern will. An Bord des japanischen Frachters, mit dem die Patels übersiedeln, befindet sich auch ein Großteil ihrer Zoo-Tiere, die nach Amerika verkauft werden sollen. Doch dann gerät das Schiff in einen heftigen Sturm und kentert. Pi kann sich in eines der Rettungsboote retten, an seiner Seite nur ein schwer verwundetes Zebra, eine gefräßige Hyäne, Orang-Utan-Mama Orange-Juice und Richard Parker, ein ausgewachsener bengalischer Tiger. Eine Odyssee, die über 200 Tage dauern wird, beginnt...
Wenn es um Leinwandbearbeitungen literarischer Werke geht, ist immer wieder die Rede von angeblich „unverfilmbaren" Büchern. Das ist eine ebenso weitverbreitete wie unsinnige Mär und Yann Martels „Schiffbruch mit Tiger" ist natürlich genauso wenig unverfilmbar wie jedes andere Buch. Dennoch kann man sich an einer Adaption regelrecht die Zähne ausbeißen, so erging es im vorliegenden Fall Regisseuren wie M. Night Shyamalan („The Sixth Sense"), Alfonso Cuarón („Harry Potter und der Gefangene von Askaban") und Jean-Pierre Jeunet („Die fabelhafte Welt der Amelie") - es gingen fast zehn Jahre ins Land, ehe das Projekt mit Ang Lee („Tiger and Dragon") endlich realisiert werden konnte. Die Wartezeit hat sich in mehrfacher Hinsicht gelohnt, denn mit den heutigen technischen Möglichkeiten kann sich der Zauber der fabelhaften Geschichte von Yann Martel vollständig auf der Kinoleinwand entfalten.
Von der ersten Minute an ziehen Ang Lee und sein Kameramann Claudio Miranda („Der seltsame Fall des Benjamin Button", „Tron: Legacy") den Zuschauer bei Momentaufnahmen aus dem Zoo mit traumhaften 3D-Tierbildern in den Bann. Selten war die dritte Dimension von so beeindruckendem Mehrwert wie bei „Life of Pi". Ob es die amüsante Darstellung einer eindrucksvollen schwimmenden Insel voller Erdmännchen, von überwältigenden Schwärmen fliegender (!) Fische oder von prachtvoller indischer Folklore ist, Lee entfesselt eine wahre Bilderpracht. Dabei geht es ihm nicht um sensationsheischende Effekte, sondern er nutzt die 3D-Technik um den Schauplätzen und Geschehnissen buchstäblich eine zusätzliche Dimension zu geben – egal ob in Indien, auf hoher See oder in Pis detailverliebt eingerichtetem Haus in Kanada.
„Life of Pi" ist auf nahezu jeder gestalterischen Ebene außergewöhnlich gut, von der Ausstattung über den Schnitt bis zur einfühlsamen Musik von Mychael Danna („Der Eissturm"). Die imponierendste technische Leistung von allen ist aber die Erschaffung der Tiere an Bord des Rettungsbootes. Es wäre natürlich zu gefährlich gewesen einen echten Tiger, eine Hyäne, ein Zebra und einen Orang-Utan gemeinsam mit einem Jungschauspieler auf wenige Quadratmeter zu sperren. Die Tiere stammen daher meist aus dem Computer und nur bei wenigen Szenen (z.B. wenn Richard Parker im Wasser schwimmt) wurde auf echte Lebewesen zurückgegriffen. Die Künste der Effektspezialisten um Oscar-Preisträger Bill Westenhofer („Der goldene Kompass") sind verblüffend. Dass Richard Parker ein CGI-Wesen ist, lässt sich vielleicht noch bei seinem ersten Auftritt erkennen, als der kleine Pi von seinem Vater (Adil Hussain) gezwungen wird, mitanzusehen wie der Tiger - in einer im Off stattfindenden und trotzdem an die Nieren gehenden Szene - eine Ziege zerfleischt. Dazu ist die eine oder andere Laufbewegung der Raubkatze vielleicht etwas ungelenk, aber insgesamt sieht der Tiger unfassbar echt aus, besonders auch wenn er allmählich abmagert und sein Fell immer struppiger wird. Richard Parker wird zur lebendigen Figur mit ganz individuellen Gesichtszügen, dabei bleibt er trotzdem stets ein gefährliches Raubtier und wird nicht vermenschlicht.
Die optische Pracht ist in „Life of Pi" kein reiner Selbstzweck. Die zauberhaften und farbenprächtigen, zuweilen surrealen Bilder sind der perfekte Rahmen für eine Geschichte, die selbst einfach nur unglaublich ist. Als der den ganzen Film über namenlos bleibende Autor Pi in Kanada besucht, erwartet er nichts weniger als eine Geschichte zu hören, die ihm „den Glauben an Gott geben wird". Das größte Kunststück von Ang Lee und seinem Drehbuchautor David Magee („Wenn Träume fliegen lernen", „Miss Pettigrews großer Tag") ist es, dass sie dieses Versprechen tatsächlich einlösen und die immense Wirkung, die Pis Geschichte auf seinen Gast hat, sich auch auf den Zuschauer überträgt. Großen Anteil daran hat Irrfan Khan („The Amazing Spider-Man", „Slumdog Millionär") in der Rolle des alten Pi. Mit seinem feinen indischen Akzent und seiner sanften Stimme, in der Weisheit und Lebenserfahrung mitschwingen, zieht er den Zuhörer ganz tief in seine erstaunlichen Schilderungen hinein.
Mit der unvergleichlichen Darbietung von Irrfan Khan kann die deutsche Synchronisation nicht ganz mithalten, obwohl man mit Ilja Richter („Der König der Löwen", „Die Monster AG") den Sprecher des Hörbuchs für die Erzählerrolle gewinnen konnte. Khan trägt auch dazu bei, dass die im Verlauf des Films seltener werdenden Wechsel zwischen der Gegenwart des Erzählens und der Vergangenheit des Erzählten so natürlich und stimmig wirken. Aber auch visuell sind diese Übergänge beeindruckend, etwa wenn das leinwandfüllende Gesicht des älteren Pi allmählich von den Bildern der Schiffbrüchigen überlagert wird. Wie Lee und Magee die Ebenen immer im richtigen Moment wechseln, dabei Durststrecken genauso wie überflüssige Dopplungen vermeiden und vielmehr vertiefende Feinheiten und Anekdoten einfließen lassen, das zeigt die erzählerische und die filmische Klasse von „Life of Pi".
Fazit: Mit „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger" gelingt Ang Lee ein Meisterstück. Ein visuell beeindruckender, aber vor allem zu Tränen rührender Film, der wirklich das Zeug hat, den Zuschauer an eine gütige höhere Macht glauben zu lassen.