Einen Heimatfilm der besonderen Art ist Michael Schorrs Road-Movie-Tragikomödie „Schultze Gets The Blues“: bizarr, lakonisch, eigenwillig. Die Odyssee einen anhaltinischen Polkaspielers auf dem Weg in die Südstaaten der USA räumte bei der Biennale in Venedig den Löwen für die beste Regie ab.
Ein kleiner Ort irgendwo in Sachsen-Anhalt. Wo genau, spielt keine Rolle. Selbst am Bahnhof findet sich kein Hinweis auf die genaue Ortbezeichnung. Das, was einst wohl das Ortschild war, ist vollkommen vergilbt und unkenntlich. Besucher verirren sich offensichtlich nicht all zu oft hierher. Ein gottverlassenes, eigentlich völlig belangsloses Städtchen, gäbe es nicht einen Einwohner mit dem Namen Schultze (Horst Krause).
Schultze arbeitete beinahe sein ganzes Leben im hiesigen Salzbergwerk. Dies mag sich auf den ersten Blick nicht sonderlich berauschend anhören, doch Schutze war damit zufrieden. Denn trotz seines chronischen Hustens und der harten Arbeitsschichten hatte er immerhin eine Aufgabe. Als er eines Tages mit seinen Kollegen Jürgen (Harald Warmbrunn) und Manfred (Karl-Fred Müller) in den Vorruhestand versetzt wird, weiß keiner der drei so recht, was sie denn nun mit der neu zur Verfügung stehenden Zeit anfangen sollen - gemeinsame Tage im Schrebergarten, der Gang zur Stammkneipe, Angeln an der Saale und der Besuch des Musikvereins. Schnell stellt sich im Alltag der drei Neusenioren anödende Routine ein. Immerhin bleibt Schultze noch sein Akkordeon und seine heiß geliebte Polkamusik, die bereits sein Vater vor ihm mit voller Inbrunst spielte. Doch auch dies beginnt ihn allmählich zu langweilen.
Doch dann, als Schultze eines Abends sein Radio einschalt, dringt unverhofft etwas Neues in sein Leben. Er hört eine für ihn bisher vollkommen fremdartige Akkordeonmusik, die ihn vom ersten Augenblick an fasziniert. Was Schultze hört ist Cujan, eine in den Südstaaten der USA weit verbreitete Musikrichtung. Das Stück will Schultze einfach nicht mehr aus dem Kopf und so beginnt er – nicht wissend, was er besseres mit seiner Zeit anfangen soll – die Melodie auf seinem Akkordeon nachzuahmen und einzuüben. Eines Tages hat er das Stück soweit einstudiert, dass er es wagt, es vor dem Musikverein vorzutragen. Sein Publikum ist schockiert. Sie können mit der seltsamen „Negermusik“ nichts anfangen. Schultzes Polkamusik hat ihnen einfach besser gefallen. Doch dieser ist von der neu entdeckten Spielart und den Staaten dermaßen gefesselt, dass er sich um den Alltag zu entfliehen auf den Weg nach Texas und Louisiana macht. Als er dort ankommt, staunt er nicht schlecht, denn dass der Amerikaner ein Faible für Polkamusik hat und hin und wieder einem Wurstfest nicht abgeneigt ist, hatte er nicht erwartet.
Drehbuchautor und Regisseur Michael Schorr gelang mit „Schultze Gets The Blues“ ohne Zweifel ein faszinierendes Erstlingswerk, das nur schwer zu kategorisieren ist. Zunächst beleuchtet er auf seine eigene Art und Weise den Mikrokosmos innerhalb eines kleinens sächsischen Städtchens, das irgendwo zwischen West- und Ostdeutschland pendelt und nicht so recht weiß, wo es nun hingehört. Sobald sich Schultze allerdings auf seine Reise macht, die ihr Ende in den Sümpfen Louisianas findet, wird der Film zum Road Movie im Stile von David Lynch „The Straight Story“ und zeigt einen Mann auf der Suche nach sich selbst. Zwei Dinge haben diese beiden Episoden gemeinsam. Zum einen, die für einen derartigen Film brillante Kameraarbeit und zum anderen die Herzenswärme, mit der die Geschichte erzählt wird.
Im Mittelpunkt von „Schultze Gets The Blues“ steht ganz eindeutig Hauptdarsteller Horst Krause. Er spielt nicht den Schultze, er ist es. Es ist eine Wonne, ihn dabei zu beobachten, wie er immer wieder zum gleichen Akkordeonstück ansetzt. Selbst wenn er einfach nur da sitzt, nichts sagt und sich den gewöhnlichen Dingen des Alltags widmet kommt nie Langeweile auf. Um einen größtmögliche Grad an Realismus zu gewährleisten und einen dokumentationsartigen Charakter einzubringen, entschieden sich die Verantwortlichen einen Großteil der Rollen nicht mit professionellen Schauspielern, sondern mit Laiendarstellern zu besetzten. Ein zweischneidiges Schwert, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte. Einerseits wirkt vieles dadurch im höchsten Maße echt, andererseits das Spiel vieler der Leinwandfrischlinge verständlicherweise nicht frei von Mängeln. Ob diese Maßnahme nun gut oder schlecht ist, muss wohl jeder für sich selbst entscheiden. Verschiedene Ansichten sind durchaus vertretbar.
„Schultze Gets The Blues“ ist gleichermaßen amüsant wie traurig. Ein über die gesamte Spieldauer sympathischer Film, der zum Nachdenken anregt. Aber sicherlich auch nichts für jedermann. „Schultze Gets The Blues“ ist ein Film für das anspruchsvolle Publikum weitab des Massengeschmacks. Doch bei der richtigen Klientel wird aus diesem kleinen Film sicherlich ganz großes Kino.