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    Die Vergessenen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Die Vergessenen
    Von Deike Stagge

    Thriller wie „Identität“ oder „Fight Club“ verlaufen nach folgender Spannungskurve: Der Protagonist erlebt eine Kette von außergewöhnlichen Vorfällen, die ihn kurz vor Schluss an seinem Geisteszustand zweifeln lassen und dann aufgelöst werden. Joseph Rubens Psycho-Thriller „Die Vergessenen“ zäumt das Pferd genau andersherum auf und bringt dadurch frischen Wind in das Genre.

    Telly (Julianne Moore) ist seit 14 Monaten bei Dr. Munce (Gary Sinise) in Therapie, um dem Tod ihres Sohnes Sam, der im Ferienlager bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, zu verarbeiten. Ihre Ehe mit Jim (Anthony Edwards) steckt in der Krise, weil sie fast nur in Sams Zimmer sitzt oder Bilder und Videos von ihm anschaut. Eines Tages sind sämtliche Erinnerungsgegenstände an Sam aus ihrem Haus verschwunden. Damit nicht genug: Jim behauptet, sie hätten niemals ein Kind gehabt. Auch der herangeeilte Dr. Munce erklärt Telly, dass sie in Therapie sei, weil sie sich ihr Kind einbilden würde. Schon nach 15 Minuten muss sich die Protagonistin zum ersten Mal fragen, ob sie einem großen Komplott gegenüber steht oder ihr Verstand ihr vielleicht doch lediglich Einbildungen und Trugbilder präsentiert hat. Von Anfang an wird so die Grundspannung der Geschichte aufgebaut und im weiteren Verlauf stetig unterfüttert. Telly läuft zunächst planlos vor diesem Konflikt weg und begegnet Ash Correll (Domenic West), dem inzwischen alkoholabhängigen Vater von Sams Freundin Lauren. Sie kam in Tellys Einbildung ebenfalls bei dem Unglück ums Leben. Doch Ash kann sich nicht an Telly erinnern - und schon gar nicht daran, jemals eine Tochter gehabt zu haben. Trotzdem lässt er die verzweifelte Frau bei sich übernachten. Unter der Tapete in seinem Arbeitszimmer entdeckt sie Malereien von Lauren. Nachdem Ash sie zunächst beschuldigt, die Bilder gemalt zu haben, bringen sie schließlich einige Erinnerungen an seine kleine Tochter zurück und überzeugen ihn letztendlich doch von Laurens Existenz.

    Zu spät, denn er hat Telly gerade als unerwünschten Eindringling der Polizei übergeben. Bei seiner Befreiungsaktion stellen die beiden fest, dass aus unerfindlichen Gründen Agenten der National Security Agency Telly unbedingt gefangen nehmen wollen. Es beginnt eine spannende Verfolgungsjagd, während die beiden Elternteile versuchen, auf eigene Faust herauszufinden, was mit ihren Kindern geschah und was die NSA mit ihrem Schicksal zu tun haben könnte. Hilfe erhalten sie dabei unerwartet von der toughen Polizisten Ann Pope (Alfre Woodard) und Dr. Munce, der sich nun doch nicht mehr sicher ist, ob Telly gänzlich ein Opfer ihres angeblich gestörten Verstandes ist. Doch neben dem NSA sind auch noch mächtigere Gegner daran interessiert, die Wahrheit unter Verschluß zu halten.

    „Die Vergessenen“ ist bestimmt ein Werk, an dem die Meinungen auseinander gehen. Erstaunlich sind in jedem Fall die Entwicklungen, die der Film durchmacht. Er beginnt dialogorientiert und langsam als Schicksal einer verzweifelten Mutter, nimmt aber plötzlich unerwartet Tempo auf und hält den Zuschauer mit Autokarambolagen, Schlägereien und unzähligen Wettläufen auf Trab. Nachdem der Ball einmal ins Rollen gebracht wurde, wird die Action nur noch durch wenige Trauer- oder Investigativszenen unterbrochen. Darunter leidet allerdings die Geschichte etwas, denn Telly und Ash finden lange Zeit einfach absolut gar nichts heraus. Zu lange wird nur über ihre Intuition („Mein Kind hat existiert“) philosophiert und die längst fällige Auflösung herausgezögert.

    Intelligent spielt der Film mit der Erwartung der Zuschauer. Eigentlich wartet das Publikum die ganze Zeit über auf eine rationale Erklärung für Tellys Geisteszustand, nachdem ihr am Anfang von Experten bescheinigt wird, dass sie psychisch labil ist und sich ihren Sohn einbildet. Doch Regisseur Joseph Ruben („Der Feind in meinem Bett“) fügt nicht alle Puzzlestücke zusammen und enthüllt erst radikal kurz vor Schluss, wo er mit diesem Film genau hin will. Während Filme wie „Identität“ oder „Fight Club“ zum Ende hin mit zumindest in sich logischen Erklärungen kommen, wird es bei „Die Vergessenen“ immer surrealer. Das kann man sowohl als mangelnden Einfallsreichtum des Drehbuch- und Regieteams interpretieren, aber auch als den Versuch, ein neues Konzept der Erzählweise zu etablieren, wie es beispielsweise David Lynch (Mulholland Drive“, „Lost Highway“) berühmt machte. Aber Ruben versucht, einen Mittelweg zwischen einem konventionellen Psycho-Thriller und einer surrealen Auflösung zu finden. Das entpuppt sich als keine gute Lösung, denn das Publikum weiß nicht, woran es wirklich ist und wird in seinen Erwartungen eher enttäuscht. Vielleicht wäre eine konsequente Entscheidung für einen Weg besser gewesen. „Die Vergessenen“ richtet sich an ein Publikum, das bereit ist, sich auf die spezielle Erzählweise einzulassen. Wer das nicht tut, wird vom Ergebnis enttäuscht werden.

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