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    Die Nacht des Jägers
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Die Nacht des Jägers
    Von Hans Riegel

    Niemand wird die Fesseln der Wahrhaftigkeit lösen; sie selbst muss sich befreien. Wodurch, frage ich, werden Wonne und Ingrimm evoziert, die den Menschen auf seine seelischen Urgründe hinabwerfen? Welchem biologischen Spiel verdankt er, dass nur eigene Anschauung ihn wahre Schönheit gewahren lässt, während alle Prosa und Lyrik verstummt? Welches sind die Reize des Unbekannten, das der Mensch schmecken und durchschreiten muss, um es wahrzunehmen als sodann Bekanntes oder immerdar Mysterisches? Kunst ist gefesselter Affekt und kristallisiert Erfahrung. Die Kunst des Films also ist eine hohe. Denn sie verquickt alles Musische, Malerei, Musik und Sprache. „Die Nacht des Jägers“, eine solche Trinität, kommt 1955 als die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Davis Grubb in die amerikanischen Kinos. Unter der Regie des namhaften britischen Schauspielers und (bis dato) Theaterregisseurs Charles Laughton ist eine Parabel über Schuld und Unschuld, Gier und Großmut, kurz über die Sünde entstanden, ein in seiner stilistischen Synthese wie epischen Perspektive idiosynkratisches Werk, welchem seinerzeit, wie allem Neuartigen zu allen Zeiten, kein Erfolg beschieden ist.

    Es handelt von Harry Powell (Robert Mitchum), der ein Blaubart ist, ein Wanderprediger, ein gieriger Parasit und ein Schmelztiegel alles Verachtungswürdigen. Mitchum geht darin zur Gänze auf, liefert eine solche Vorstellung erst und endlich wieder in „Kap der Angst“ (1962). Sein passionierter Auftrag in diesem Stück ist die Verfolgung eines kindlichen Geschwisterpaares. Denn während der Großen Depression sind 10.000 Dollar viel Geld, und die Kinder wissen, wo es ist. So beginnt die Jagd auf den zehnjährigen John und die puppenhafte Pearl (Sally Jane Bruce).

    Neuartig ist die Melange aus auktorialer Erzählperspektive, gleichsam angelegt als die Geschichte einer mother goose, Rachel Cooper (Lillian Gish), und einem personalen Handlungsverlauf mit einer kindlichen Reflektorfigur, dem Jungen John Harper (Billy Chapin). Letzteres gereicht, nicht per se, doch in diesem Fall zur Kritik. Wahrlich zu fesseln vermag nur die spürbare Erfahrung einer Geschichte, gleichviel, ob mittelbar oder unmittelbar. Im Theater kreieren seit Aristoteles die Darsteller Identifikationsfiguren, welche den Zuschauer auf die inneren Bühnen des Unbekannten führen. Des Theaters Ziehsohn, der Film, kann darauf nicht verzichten, zumal nicht bei Hauptdarstellern. Diesem zum Verhängnis wird nicht das Versagen der Schauspieler, sondern das Gelingen des dramatischen Konzepts von Charles Laughton. Nicht jedes dunkle Mysterium verlangt nach Licht. Laughton selbst lebt diese Maxime, sein Film jedoch heischt mittels epischer Brüche nach ständiger Reflexion, verhindert so das Eintauchen in die Fabel, strebt dies letztlich sogar an. Im Ansatz, in der Exposition bereits bekundet sich - auch akustisch - die Lesart, eine Funktionalität, die Reflexionen einlädt, das Mysterium aber von sich weist und das echte Erlebnis zur persona non grata erklärt. Ist es nicht epischer Film, wenn allerorten Brecht dampft? Allein das Kind mag sich darum nicht scheren.

    Wer mit Kunst umgeht, sieht sich stets an einer Wegscheide, wo alle Wege zu neuen Gefilden führen. Doch während der erste eine Tür bloß zeigt, verrät der zweite, was sie verbirgt. Der erste heißt wahrlich Empirie, der zweite Wissenschaft; und allzu oft endet dieser, wohin Kunst nicht zu gehen verpflichtet ist, in einer Evaluation ihrer selbst. Wer also hinter die Tür blicken will, der soll sie durchschreiten. Denn die Welt ist wert, dass sie erfahren wird. Der, welcher sie vorspielt, bedarf mindestens der rechten Mittel. Idealisierte, funktionale Charaktere dienen, zumal im Kontext einer märchenhaften Parabel, gemeinhin als Reflexionsfläche, ermangeln aber allzu oft einer Legitimation in der Wahrscheinlichkeit. Davis Grubb gestaltete die Romanfigur des Harry Powell in Anlehnung an den 1932 gehängten Frauenmörder Harry Powers. Laughton macht aus ihm das Sinnbild des Bösen, eine lexikalische Definition von Bigotterie. Gegen die Funktionalisierung ist nichts einzuwenden, doch zielt das epische Theater einzig darauf ab. Wo immer etwas gleichsam zum Selbstzweck geschieht, schmeckt es fad. So wirken einige Figuren, als zum Beispiel Willa Harper (Shelley Winters), in sträflicher Weise undynamisch, ihr Handeln vorhersehbar. Laughtons Mittel sind mithin die rechten, da er sie aber strapaziert, geht dem Film auch die mittelbare Wirklichkeit ab.

    Ebenso wie das Märchen, ist der epische Film in höchster Weise konstruiert. Denn wer zur Reflexion anhält, der muss auch die Möglichkeiten dazu bereiten. Hierin ist „Die Nacht des Jägers“ meisterlich. Die Anlage der dramatis personae ist zielführend; das Motive der gescheiterten, in Gewalt verkehrten Sexualität des Harry Powell legitimiert hinreichend seine kriminelle Obsession; seine Attraktion auf Frauen, die dem Geld inhärente Schuld, die seinen Besitzer infiziert, sind teils subtil, teils evident, und beeinflussen merklich die Handlung. Eine Analyse des Films entdeckte leicht verschiedene Verständnisebenen, funktionierende Metaphern in moralischen Gewässern und die Ambivalenz der Frömmigkeit als das Hauptthema. Für hingebungsvolle Detailkrämer ist das Werk ein intellektueller Hochgenuss. Doch zählt der Moment, in welchem man den Film sieht, das Bild betrachtet, der Musik lauscht. Es ist die Wirkung der akuten Erfahrung, die über Sieg oder Niederlage entscheidet. Und welche Analyse brächte Erkenntnisse, die bei der ersten Sichtung noch undenkbar gewesen wären? Für den, welcher durch andere lebt, aus zweiter Hand, entschleierte eine wissenschaftliche Untersuchung womöglich die Mysterien, öffnete die Tür zum Unbekannten. Allein, einmal gelesen, erspart sie nicht die eigene Anschauung, nicht das Hören, nicht das Leben selbst. Was der Mensch aus den Erfahrungen anderer zu lernen bereit ist, zeigt eindrucksvoll die Geschichte seiner Art.

    Die sixtinische Kapelle hat nicht gesehen, wer sie auf Fotos oder Bildern gesehen hat. Über Kunst kann nur sprechen, wer sie erfahren hat. So ist der Versuch hinfällig, die expressiven, expressionistischen Bilder des Werkes beschreiben zu wollen. Laughton pflückt tatsächlich Stilblüten verschiedenster Herkunft, arrangiert und bindet sie zu einem Strauß eigener Couleur. Gemäß den Gepflogenheiten des epischen Theaters gebraucht er die Kulisse zur Unterstützung der Filmaussage und Reflexionsaufforderung an den Zuschauer. Der frühe expressionistische Film, besonders der deutsche, nutzt starke Hell-Dunkel-Kontraste, verschobene Größenverhältnisse, asymmetrische Formen und unnatürlichen Lichtwurf, um Gefühlswelten zu erschaffen, innerhalb deren die Figuren agieren. Die Synthese des epischen und emotionalen Moments macht „Die Nacht des Jägers“ zu einem äußerst interessanten Unterfangen. Nicht nur Deutschland zollt der Brite Anerkennung, auch gegen die Vereinigten Staaten zeigt er sich dankbar. Er engagiert Lillian Gish, den Star aus u.a. David W. Griffiths „Geburt einer Nation“ (1915), reduziert die technischen Errungenschaften seiner Zeit, und indem er das Objektiv gen Boden neigt, um eine Szene zu beenden, verneigt er sich vor Griffith, mit welchem die Filmkunst ihren Anfang nahm. Laughtons Werk jedoch ist mehr Theater denn Film; in nur 36 Tagen gedreht, glänzt seine Mise-en-scène durch Spärlichkeit, seine Kamera durch manchmal rohe, archaische Bewegungen, die punktuell kaum verraten, dass Stanley Cortez (Der Glanz des Hauses Amberson, 1942) sein Handwerk durchaus versteht. An der Kinokasse zunächst ein Misserfolg, erlebte „Die Nacht des Jägers“, von Filmliebhabern wieder entdeckt, eine Renaissance ähnlich der des Hitchcock-Meisterwerks Vertigo (1958). Später also, ob seiner kapriziösen Atmosphäre, oft als irreal, bedrückend und gar schockierend beschrieben, ist der vermeintlich gruselige Film als ein Klassiker des Horrorgenres bekannt geworden. Verschiedenste Bereiche der Populärkultur zeigen sich durch das Werk beeinflusst; in der Musik, im Fernsehen, als amüsanter Nonsens („The Rocky Horror Picture Show“, 1975), als festes Motiv (Gebrüder Coen) im Film finden sich zumeist die berühmten Schriftzüge L-O-V-E und H-A-T-E referenziert, welche Harry Powell auf seine Fingerknöchel tätowiert hat, um den ewigen Widerstreit von Gut und Böse in groteskem Armdrücken veranschaulichen zu können. 1991 entstand sogar ein wenig erfreuliches TV-Remake unter der Regie von David Greene.

    Diese Reputation beruht auf der Wahrnehmung vieler Menschen, einer Masse von subjektiven Eindrücken, gewonnen aus der Anschauung und kolportiert durch viele derer, die ihr Fähnlein in den Wind halten. Doch ist sie gerechtfertigt angesichts eines Grauens, welches nicht einsetzt, einer Dramaturgie, welche sich gleich zu Beginn eines Überraschungsmoments entledigt, indem das Böse vorgestellt wird, statt sich selbst vorzustellen? Obgleich die Wissenschaft, die Filmanalyse - in der Theorie - objektiv oder zumindest objektiver zu bewerten scheint, ist die Wahrnehmung der Kunst in einem solchen Maße subjektiv durchstrahlt, dass objektive Wissenschaft auf ihrem Spielfeld kein Tor zu erzielen vermag. Am Ende ist Sachlichkeit in der Kunstbewertung nutzlos.

    Und was leistete sie letztlich mehr als die Erfahrung aus zweiter Hand, die Vereinfachung von Inhalten, den Raub wahrhaftiger Betrachtung? Sie weckt nicht Grimm noch Freude, ist blind für die Kunst. Was ist das Geheimnis eines Lynch-Films wert? Wenn illustre Connaisseure, wissend um den Gehalt eines Gemäldes, frohgemut durch Museumsflure schweben, dann ermessen sie diesen Wert, posaunen Bescheidenheit und geraten schweigend ins Fabulieren. Die Illusion fasziniert. Der Trick beeindruckt niemanden. Charles Laughton weiß jederzeit, was er tut. Wer seinen Film (seinen einzigen) ablehnt, tut es nicht wegen formaler Mängel. Er verlangt ohnehin nicht die Lupe, sondern Reflexion. Denn „Die Nacht des Jägers“ ist ein epischer Film, ein modernes Märchen, welches die ewigen Motive von Gut und Böse in der Wirklichkeit materialisiert und eine hypothetische Verbindung der Pole wagt, eine stilistisch berückende Illusion über nicht allzu trickreicher Dramaturgie. Das kann man klug finden, lieben muss man es deswegen noch nicht.

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