Die Geschichte um den mexikanischen Padre Amaro erregte erstmals 1875 Aufsehen, als der Schriftsteller José Maria Eça de Queiròs einen Roman unter diesem Titel veröffentlichte. Doch auch jetzt, als der gleichnamige Film auf Basis dieses Romans in die mexikanischen Kinos kam, erhitzte er die Gemüter so mancher gottesfürchtiger oder sich dafür haltenden Menschen, zumal Carlos Carrera die Handlung in die Gegenwart versetzte. Nichtsdestotrotz ist „El Crimen del padre Amaro“ der erfolgreichste Film, der je in Mexiko in die Kinos kam, und übertraf dementsprechend auch den Erfolg von „Y tu mamá también“ (2001). Selbst in der Kirche allerdings gehen die Meinungen auseinander. Pater Rafael Gonzales etwa, der für den Rat der mexikanischen Bischöfe spricht, nannte den Film ehrenhaft und hält ihn für eine Herausforderung für die Kirche, ihr Verfahren der Auswahl und Ausbildung von Priestern zu überdenken. Die Kirche müsse dem Volk näher sein als bisher.
Der junge Padre Amaro (Gael Garcia Bernal, einer der beiden männlichen Hauptdarsteller in „Y tu mamá también“) tritt – protegiert vom Bischof (Ernesto Gómez Cruz) – sein erstes Amt in dem kleinen Ort Los Reyes an; er soll Padre Benito (Sancho Grazia) bei seiner Tätigkeit unterstützen. Amaro ist von seiner religiösen Aufgabe vollauf überzeugt und glaubt, ihr entsprechend in Los Reyes wirken zu können. Die Verhältnisse dort allerdings lehren ihn etwas anderes. Zunächst muss er feststellen, dass sein älterer Kollege Benito nicht nur seit Jahren mit Sanjuanera (Angélica Aragón), die ein kleines Restaurant führt, ein Verhältnis hat, sondern zudem mit der örtlichen Drogenmafia Geschäfte macht: Die Dealer finanzieren u.a. ein Krankenhausprojekt mit. „Wir nehmen schlechtes Geld und waschen es rein“, kommentiert Benito diese Politik. Der Bischof kennt diese Verhältnisse, und er benutzt Amaro dazu, ihm über die Geschehnisse Bericht zu erstatten, um das Ansehen der Kirche nach außen zu wahren, das heißt zu verhindern, dass solche Methoden in der Öffentlichkeit bekannt werden, ohne dass er sie etwa ablehnen würde.
Der Bischof will andererseits den aufsässigen Padre Natalio (Damián Alcázar) aus dem Verkehr ziehen, der immer wieder unter Verdacht gestellt wird, mit „Terroristen“ gemeinsame Sache zu machen. Tatsächlich versucht Natalio lediglich, die Bevölkerung im Kampf gegen die Drogenkriminalität zu unterstützen und sinnvolle Projekte zu initiieren. Amaro gerät in ein Wirrwarr von Korruption und Täuschung. Doch auch er selbst lässt sich in den Strudel der Ereignisse hineinziehen. Die 16-jährige Tochter Sanjuaneras, Amelia (Ana Claudia Talancón), genannt Amelita, hat es Amaro angetan. Amelita stößt ihren Freund Ruben (Andreas Montiel), der als Reporter für eine Zeitung arbeitet, von sich, als Amaro ihr zu erkennen gibt, dass auch ihm das Zölibat nicht absolut heilig ist. Es beginnt eine verhängnisvolle Affäre, noch dazu mit einer Minderjährigen, die möglicherweise die Tochter Benitos ist. Nicht nur dies: Amelita ist schwanger ...
Carrera inszenierte die Geschichte um einen jungen Pater, der in seiner – man könnte sagen – „linientreuen“ Überzeugung weniger tief enttäuscht wird, als er sich das vor Antritt seines neuen Amtes gedacht hätte, sehr geradlinig, fast plakativ, aber eben nur fast. Die Geschichte um die kleinen und größeren Schwächen einer mächtigen und einflussreichen Organisation wie der katholischen Kirche hätte ebenso gut um eine andere größere Institution mit ausgebildetem Regelwerk und festen Strukturen herum spielen können. Die Handlung führt uns an Abgründe, die eben nicht nur speziell mit der Kirche verbunden sein müssen: Drogen, Alkohol, Sexualität mit einer Minderjährigen und nicht zuletzt auch die Misshandlung einer geistig gestörten jungen Frau, die wie in einem Käfig gehalten und über die geschwiegen wird.
Im Zentrum steht dabei nicht so sehr die Doppelmoral und Doppelbödigkeit einer Großinstitution, deren Kritik innerhalb der Kirche viel Protest, aber, wie gesagt, auch Zustimmung erfahren hat. Entscheidend sind vielmehr die Motivationen der handelnden Personen, ihre Reaktionen auf emotionale Veränderungen im Gefüge eines kleinen Dorfes, ihr Verhalten gegenüber Geschehnissen am Rande der Legalität und gegenüber Gefährdungen ihrer eigenen Integrität und vor allem ihres eigenen Fortkommens.
Padre Amaro ist nämlich nicht nur einfach bibelfest – wie man meinen könnte. Seine Treue zur katholischen Lehre fußt vor allem in dem Bestreben, Karriere zu machen. Sein Protegé – der Bischof – gibt ihm ganz bewusst den notwendigen Background für diese Erwartung. Kaum gerät Amaro in die „Klauen der Unmoral“ – die Beziehungen Benitos zur Drogenmafia und sein sexuelles Verhältnis zu Amelitas Mutter –, weiß er nicht weiter. Auch der Bischof ist ihm hier keine Hilfe, denn der verfolgt andere Pläne. Dann verliebt sich Amaro in eine schöne junge Frau, die erst 16 Jahre alt ist, und schläft mit ihr im Zimmer neben dem Raum, in dem die kranke junge Frau (sprachunfähig) im Bett liegt. Als Amelita schwanger wird, ist der erste Gedanke Amaros: Abtreibung. Auch hier sind die Motive doppeldeutig. Einerseits gehört Abtreibung zu den von der Kirche am vehementesten bekämpften Handlungen, andererseits denkt Amaro an seine Karriere – und plädiert für Abtreibung. In der Nacht sind alle Katzen grau. Er handelt jetzt nicht als Padre, sondern als Mann, der an seinen Aufsteig denkt. Erst als es zu spät ist, sieht er ein, in welches fein gewobene System er hineingeraten ist, teils durch eigene Schuld, teils durch das perfekte Zusammenspiel von Geben und Nehmen, verkündeter Moral und tatsächlichem Verhalten. Amelita, die Unschuldige, die einzige Unschuldige neben der jungen geisteskranken Frau, verlangt von Amaro, aus Liebe sein Priesteramt aufzugeben. Das lehnt er ab. Und diese Entscheidung wird ihr wie ihm zum Verhängnis. Amaro hat einen Traum, den des „reinen“, unschuldigen Priesters. Nur einer im Film hat sich diesen Traum verwirklicht, Padre Natalio. Er kämpft mit seinen Leuten, aber eben kompromisslos: Obwohl er deswegen exkommuniziert wird, kämpft er weiter.
„El Crimen del padre Amaro“ ist trotz allem keine Schwarzweißmalerei. Carrera belässt seine Personen im Reich der Differenzierung. Niemand ist hier wirklich unsympathisch, selbst der Bischof nicht, der im guten Glauben handelt, wenn er schon gegen die Drogenhändler nichts ausrichten könne, wolle er ihnen wenigstens einen Teil ihres Geldes für gute Zwecke abknapsen. Das System von checks and balances, in dem der Grundsatz gilt „You scratch my back and I'll scratch yours“, verweist jenseits der im Film geschilderten konkreten Verhältnisse auf Strukturen am Rande der Legalität und der Doppelmoral, die auch anderswo zu finden sind. Der Film erzählt die Geschichte ruhig, manchmal fast gelassen, ohne über die gegebene Tragik des Geschehens hinwegzugehen und hinwegzusehen.
(Zuerst erschienen bei CIAO)