Mein Konto
    Krass
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Krass
    Von Christoph Petersen

    Skurrile Coming-Of-Age-Geschichten – am besten noch mit ein wenig Zeitkolorit gewürzt – sind momentan eines der It-Themen der amerikanischen Independent-Szene, was die beachtlichen Erfolge von Filmen wie Thumbsucker, Glück in kleinen Dosen oder dem mit Preisen überhäuften Der Tintenfisch und der Wal beweisen. Es war also eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sich die Filmindustrie auf den Bestseller „Running With Scissors“ stürzen würde, in dem Autor Augusten Burroughs die Erinnerungen an seine Jugend beschreibt, die er zwischen einer depressiven Mutter und irren Psychiatern verbrachte. Drehbuch und Regie hat bei dieser Tragikomödie, die in Deutschland unter dem sinnfreien Titel „Krass“ in die Kinos kommt, Ryan Murphy übernommen, der bisher in erster Linie durch seine Arbeit als TV-Serien-Produzent auffiel. Leider gelingt es Murphy aber nicht, bei der Zeichnung seiner skurrilen Figuren die richtige Mischung aus Karikatur und ernstem Kern zu treffen, wodurch die eh schon recht wirren Entwicklungen für den Zuschauer kaum noch nachvollziehbar sind.

    Augusten (Joseph Cross) wächst in den 70er Jahren in einer komplett disfunktionalen Familie auf. Sein Vater Norman (Alec Baldwin) ist Matheprofessor und Alkoholiker, seine Mutter Deirdre (Annette Bening) ist eine manisch depressive Dichterin, die sich trotz ihres ständigen Scheiterns für einen großen Literaturstar hält und die Bewunderung ihres Sohnes schamlos ausnutzt. Als die Ehe endlich auseinander geht, wendet sich Deidre an den exzentrischen Psychiater Dr. Finch (Brian Cox), der sie auch sofort mit ausreichend Psychogeschwafel und Tablettenbergen versorgt. Ein weiterer Schritt der Therapie sieht vor, dass sich Deidre in einem Motel erholt, während Augusten in dieser Zeit bei Dr. Finch und seiner Familie unterkommt. In Finchs rosafarbenen Haus, in dem jeder jeden analysiert und das offene Ausleben von Gefühlen zu jeder Tages- und Nachtzeit ausdrücklich erwünscht ist, beginnt jedoch erst der wahre Wahnsinn – die forsche Tochter Natalie (Evan Rachel Wood) spielt gerne mit dem Elektroschockapparat ihres Vaters herum, die superreligiöse Tochter Hope (Gwyneth Paltrow) kommuniziert den lieben langen Tag mit ihrem Kater Freud und die Schizophrenie von Augustens Lover Neil Brookman (Joseph Fiennes) führt dazu, dass er auch schon mal nachts mit einem langen Messer in der Hand vor irgendeinem Bett auftaucht…

    Mit seiner Erfolgsserie „Nip/Tuck“ hatte Regisseur Ryan Murphy das Schaffen von satirisch überhöhten, fast schon absurden Figuren, die aber dennoch auch emotional hervorragend funktionieren, schon beinahe perfektioniert. Eigentlich also total unverständlich, warum ihm ausgerechnet diese Gratwanderung in „Krass“ so gründlich misslingt. Vor allem in der ersten Hälfte sind die Charaktere so überdreht und abgehoben angelegt, dass man den „wahren“ Kern der Geschichte kaum noch in ihnen erkennen kann – so wirken viele Gags schlicht platt und nicht wie gewollt charmant-skurril. Das Einzige, auf das man sich in dieser Phase des Films verlassen kann, ist der zum Teil bitterböse Abgesang auf die Abgründe der Psychotherapie, die mit Pillenwahn und statistisch fragwürdigen Forschungen in dieser Ära ganz schön aus dem Ruder gelaufen war. Wenn Dr. Finch für die Eheberatung von Norman und Deirdre kurzerhand mindestens fünf Stunden täglich veranschlagt oder die Frage „Where Would We Be Without Our Crazy Childhoods?“ aufwirft, sind das wunderbar bissige Momente, die die anderen Bereiche des Films hingegen schmerzlich vermissen lassen.

    Zünden in der ersten Hälfte zumindest noch einige der Gags, bricht der Film dann in der zweiten so ziemlich komplett auseinander. Ohne Vorwarnung schwenkt er plötzlich zu einer ernstzunehmenden Coming-Of-Age-Tragikomödie um, die man aber kaum emotional nachvollziehen kann, weil dem Zuschauer alle Figuren zuvor nur als Karikaturen vorgestellt wurden. So ergibt sich auch die eine oder andere Länge, weil man gefühlsmäßig kaum mitfiebert. Was den Film dann allerdings wiederum vor dem völligen Absturz bewahrt, ist der beeindruckende Cast, dem man bei seinen skurrilen Spinnereien – auch wenn diese häufig eher konzeptlos aneinandergereiht sind – zumindest gerne zusieht. Eine echte Überraschung ist vor allem Joseph Cross, der in „Krass“ seine erste richtige Hauptrolle spielt und dabei gleich im Kreise der zahlreichen Darstellergrößen, die die Nebenrollen bevölkern, voll überzeugen kann.

    Brian Cox´ (Troja) Verkörperung des allzu verständnisvollen Psychiaters quillt vor Exzentrik nur so über, bis zum Schluss kann man so nicht ernsthaft einschätzen, ob man diese Figur nun eigentlich hassen oder lieben soll – einfach toll! Gwyneth Paltrow (Sieben) agiert als irre Christenbraut zwar etwas eindimensional, macht in ihren besten Momenten aber wirklich ein wenig Angst. Und Evan Rachel Wood, die schon in Dreizehn und An Deiner Schulter ihr Talent für die Rolle der rebellierenden Teenagerin unter Beweis stellen konnte, setzt nun als aufbegehrende Psychiatertochter sogar noch einen drauf. Enttäuschen ist – auch wenn sie für diese Rolle eine Golden-Globe-Nominierung einheimsen konnte - einzig die Performance von Annette Bening, die ihren Auftritt anscheinend dazu nutzt, die komplette Bandbreite ihres Können ohne Rücksicht auf ihre Figur abzuspulen – fast so, als wolle sie „Krass“ zukünftig als Bewerbungsvideo nutzen. Von ihrer feinen Subtilität, die sie vor allem in American Beauty noch auszeichnete, fehlt hier leider jede Spur.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top