Wer weiß denn schon, dass Ladislav Löwenstein der vielleicht größte deutsche Schauspieler des 20. Jahrhunderts war, den Charlie Chaplin seinerzeit gar den „besten Schauspieler der Welt“ nannte? Selbst unter seinem Künstlernamen Peter Lorre (ein Anagramm von Rolle) ist sein Schaffen und vor allem sein Können außer Filmkennern nur wenigen ein Begriff. Wenn doch, dann entweder für seine erstaunliche und buchstäblich wahnsinnige Darstellung des Kindermörders Hans Beckert in Fritz Langs Geniestreich M – Eine Stadt sucht einen Mörder oder für unsägliche B-Movies aus den Fünfzigern („The Story Of Mankind“, „Hell Ship Mutiny“). Für Lorre währte der Ruhm nach Langs Film nur kurze Zeit. Nur wenige Monate nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigriert er mit den berühmten, auf seine Rolle in „M“ anspielenden Worten: „Für zwei Mörder wie Hitler und mich ist in Deutschland kein Platz.“ Sein Regiedebüt „Der Verlorene“ stellte seine Rückkehr nach 17 Jahren Exil dar. Von der Kritik verrissen, vom Publikum gemieden, ist Lorres mit überragenden Darstellern brillant inszenierter Film rückblickend der vielleicht bedeutendste des deutschen Nachkriegsjahrzehnts.
Die Trümmerjahre im Nachkriegsdeutschland: In einem Flüchtlingslager raucht und trinkt sich Lagerarzt Dr. Neumeister (Peter Lorre) durch die Tage und Behandlungen. Irgendwann erscheint ein Mann namens Nowak (Karl John). Zunächst bestürzt angesichts des Zusammentreffens, geht Neumeister mit Nowak am späten Abend noch in die Lagerkantine. Während Nowak seinen Hunger und Durst stillt, lässt die Begegnung Neumeister keine Ruhe. Er beginnt, ihre gemeinsame Vergangenheit zu rekapitulieren, und wie sich herausstellt, sind beide nicht, wer sie vorgeben zu sein: Ende 1943 arbeitete der Wissenschaftler Dr. Karl Rothe, jetzt Dr. Neumeister, an einem bedeutenden Impfstoff. Eines Tages musste er erfahren, dass seine Verlobte (Renate Mannhardt) ihn ausspioniert und sämtliche seiner Forschungsresultate an Großbritannien verraten hat. Obendrein unterhielt sie ein Verhältnis zu seinem Assistenten Hösch, jetzt Nowak, der als Agent der Gestapo die Forschungen Dr. Rothes überwachen sollte. Der betrogene und hintergangene Rothe tötete im Affekt seine Verlobte. Daraufhin verschleierte die Gestapo den Mord als Suizid, da ihnen Rothes Forschungen zu wichtig waren. Doch die Schuld nagt an Rothe und er lässt sich zu einem weiteren Mord hinreißen. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit zieht die schicksalhaften Fäden immer enger um beider Gegenwart und offenbart allerlei offene Wunden und Rechnungen…
„Nichts was noch lebt, schläft so tief, dass es nicht erwachen könnte.“
Es ist dieser Satz Rothes, der die Hauptmotive des Films bündelt. Im Zentrum steht immer wieder das Vergessen, oder vielmehr das Nicht-Vergessen-Können. Lorre, der auch das Drehbuch verfasste, nimmt sich zahlreicher heikler Themen der Zeit an. „Der Verlorene“ rückte alles in den Fokus, was „Das Schwarzwaldmädel“ & Co vergessen machen wollten: Schuld- und Verantwortungsfragen, Krieg, Trümmer, Tote, personelle Kontinuität. Kein Wunder, dass der Film kurz nach seinem Erscheinen für Jahre in den Giftschrank wanderte.
Nach einer viertelstündigen Einleitung, in der sich die alten Bekannten im Lager wiedertreffen, beginnt die rückblickende Erzählung, wiederholt durchbrochen von kurzen Szenen aus der erzählenden Gegenwart. Diese Überblendungen von Vergangenheit und Gegenwart fangen Rothe immer wieder in ähnlichen Bewegungen ein. Man sieht, wie er der Vergangenheit nachspürt, wie diese ihn nicht mehr loslässt. Seinem unbedingten Bedürfnis, sich die Geschehnisse von der Seele zu reden, steht Höschs stumpfsinnige Abwehrhaltung und seine dumpfe Phrasendrescherei gegenüber. Hösch ist auf der Flucht, hat wie Rothe einen neuen Namen angenommen und ist der Meinung, Rothe stehe in seiner Schuld. Er habe ihm doch damals als Gestapo-Offizier bei der Vertuschung des Mordes geholfen. Doch in den Rückblenden sieht man, wie sehr Rothe nicht nur unter seiner Tat leidet, sondern auch daran, keine Buße getan zu haben. Lebensmüde wandert er bei Fliegeralarm, der die Menschen in die Keller treibt, im Freien umher. Dieser Staat lässt ihn nicht einmal für seine Schuld sühnen! Doch wird Rothe hier nicht plötzlich politisch und erkennt – Pathosgefahr (!) – die wahre Natur der Nationalsozialisten. Nein, er nähert sich stückweise dem Wahnsinn. Er wird zum Triebtäter, der Frauen meuchelt. Warum wird nicht erklärt, vielleicht, weil seine große Liebe ihn betrogen hat. Es spielt aber auch keine Rolle, denn was zum Ausdruck gebracht werden soll, ist eh klar: Nämlich wie das Politische ins Private ein- und übergreift.
Während Rothe in einem Beinahe-Monolog in der Kantine die Vergangenheit aufarbeitet, bleibt der einfältige Gestapomann Hösch bei seinem rigiden Blick auf Geschehenes und Geschichte, eingemauert in bedingungsloser Unreflektiertheit und schalem Stumpfsinn. Das Besondere des Films liegt auch darin, es mit keinem bloßen Anklagefilm zu tun haben. Rothe war kein Widerstandskämpfer, sondern ein der Wissenschaft verschriebener, unpolitischer Mitläufer. Die Konstellation ist vertrackt, da der Protagonist selbst ein Mörder ist. Doch im Angesicht des aalglatten, gefühlsarmen und unbeirrbaren Nazis wird der Frauenmörder Rothe zum Sympathieträger. Während Hösch ein politischer Flüchtling ist, ist Rothe ein unpolitischer Mörder, den erst der Eingriff der Politik in zum Mörder gemacht hat. So wie der nazistische Staat entscheidet, wer stirbt, fällt der Staat auch das Urteil darüber, wer leben darf. Rothe verursacht diese Erkenntnis tiefstes Unbehagen, hätte er nach eigener Ansicht den Tod doch so viel mehr verdient als all die Kriegstoten. „Der Verlorene“ fragt nicht nach der Schuld, sondern weist weit darüber hinaus, geht es ihm doch um die Einsicht der Schuld und den Umgang mit ihr.
Der schauspielerische Alleskönner Peter Lorre spielte in den 1920ern unter Bertolt Brecht Theater, drehte in der Zeit seines Exils in den 1930er und 1940er Jahren unter anderem mit Größen wie Alfred Hitchcock, John Huston, Humphrey Bogart, Joseph L. Mankiewicz oder Don Siegel, und spielte tragende Rollen in Klassikern wie Die Spur des Falken, Casablanca oder Arsen und Spitzhäubchen. Ohne Zweifel ist Lorre der unbestrittene Mittelpunkt des Films. Als Rothe lässt er seinen somnambulen, zwanghaften und fremdbestimmten Triebtäter Beckert aus M – Eine Stadt sucht einen Mörder anklingen. Sein Spiel ist allerdings zurückhaltender als in „M“, dessen große Gesten doch noch ein wenig der Stummfilmära hinterherspürten. Trotzdem sind gerade die Hände wichtiges Ausdrucksmittel von Rothes unablässiger Anspannung und seelischer Beschwernis. Sein todtrauriges Augenrollen – diese riesigen Augen in diesem riesigen Kopf auf diesem kleinen Körper – hat er selten besser eingesetzt. Er macht die Verzweiflung greifbar und immer meint man, eine Lebensmüdigkeit in Lorres Spiel zu erkennen, die der Geschundene wohl nicht einmal zu spielen brauchte. Lorres Rothe wirkt so bei sich, scheint so in sich versunken, was insbesondere in seiner samtenen und betrübten Stimme Ausdruck findet. Stets spricht er mehr zu sich selbst als zu Hösch.
Auch Karl John ist absolut treffend besetzt, denn sein steifes Spiel passt perfekt zum bornierten Nazi Hösch. Hervorzuheben sind auch die Frauenrollen. Zwar absolvieren sie allesamt nur kurze Auftritte, doch vor allem Renate Mannhardt als Rothes berechnende und verräterische Verlobte, Lotte Rausch als sein zweites, allzu naives Opfer, und Gisela Trowe als Prostituierte sind bestechend. Letztere hat eine der stärksten Szenen des Films, wenn sie vor ihrer Wohnungstür in den wahnsinnigen Augen ihres Freiers Rothe eine entsetzliche Entdeckung macht.
Dem Film ist in jeder Einstellung die Gewandtheit des Regisseurs anzumerken. Neben dem thematischen Motiv des Vergessens zieht sich auch das Bildmotiv der anfangs Gefahr ausstrahlenden, später todbringenden Eisenbahn durch den Film. Unwillkürlich muss man an die Züge in die Konzentrationslager denken. Immer wieder nähert sich Lorre der Kamera, bis er das Bild schwärzt. Wie ein Leichentuch legt sich sein Körper über die Kamera, um nicht zu zeigen, was nur gedacht werden soll. Eine klare Genre-Einteilung ist nur schwer möglich, doch birgt „Der Verlorene“ mit seiner Low-Key-Beleuchtung, welche in Nahaufnahmen die Gesichter halb im Dunklen lässt, mit Lorres Erzählstimme aus dem Off, die die Begebenheiten während des Krieges darlegt, sowie mit keiner klaren moralischen Unterscheidung von Gut und Böse Anleihen an den Film Noir. Die Bilder sind von enormer atmosphärischer Dichte und auch die Erzählweise erfährt eine Zuspitzung. Die Spannungen, die sich bei der Rekapitulation der gemeinsamen Vergangenheit Rothes anstauen, bündeln sich immer stärker auf die Filmgegenwart in der Kantine und auf die Situation zwischen den beiden.
Die Präzision und Kraft des Films ist umso bemerkenswerter, denkt man an die Umstände seiner Entstehung. Lorre selbst hatte eben erst eine Gelbsucht überstanden und litt schon länger an einer Morphium- und Alkoholsucht. Während der Dreharbeiten fiel zunächst der zweite Hauptdarsteller Karl John, der den Hösch gibt, aufgrund eines Autounfalls mehrere Wochen aus, dann verstarb der Lorre in enger Freundschaft verbundene Produzent Karl Pressburger noch während der Dreharbeiten. Und als abschließender Tiefpunkt verbrannte der gesamte Rohschnitt kurz vor der Fertigstellung. Trotz alledem wurde Lorres Regiedebüt auf der Biennale in Venedig 1951 uraufgeführt und mit durchweg positiver Resonanz aufgenommen. In Deutschland hingegen tickten die Filmuhren zu der Zeit anders. Zwar erhielt Lorres Regie und Spiel teils wohlwollende Kritiken, doch über seinen Film senkten sich die Daumen reihum. „Der Verlorene“ ging in den Kinos desaströs unter. Peter Lorre wartete bis 1952 in einem Münchner Hotelzimmer darauf, dass man ihm weitere Regieangebote unterbreitete, doch nichts geschah. Desillusioniert und zutiefst gekränkt kehrte er der jungen Bundesrepublik den Rücken, ohne das Land je wieder zu betreten. Deutschland verlor zum zweiten Mal einen der kritischsten und sensibelsten Geister. Lorre selbst wurde zum „Verlorenen“, um den sich keiner scherte. Sein zweites Exil in den Vereinigten Staaten verlief weniger erfolgreich. In den verbleibenden zwölf Jahren seines Lebens rieb sich Lorre in marginalen, teils beschämenden („The Patsy“), ihn stets unterfordernden Nebenrollen auf. „Der Verlorene“ sollte seine einzige Regiearbeit bleiben.
„Der beachtliche und ehrliche Film wurde in Deutschland so kalt aufgenommen, dass Lorre enttäuscht nach Amerika zurückging und sich vollends zu Tode soff.“
- Lotte Eisner
Wie Lorre zu einem „Verlorenen“ des deutschen Films geriet, wurde auch sein Film zu einem Verlorenen. Erst 1983 kam es zu einer Wiederentdeckung des Films, als das San Francisco Film Festival den 30 Jahre lang vergessenen Film mit englischen Untertiteln zeigte und „Der Verlorene“ daraufhin bei zahlreichen Festivals eine kleine Auferstehung feierte.
Zu den wenigen negativen Seiten gehört der Score. In ruhigen Szenen und Einstellungen soll immer wieder durch pompöse, hektische Orchestermusik Spannung aufgebaut werden, was jedoch auf die Nerven geht, zumal der Film dies gar nicht nötig hat. Doch ist das schlicht den Inszenierungsgewohnheiten der Zeit geschuldet. Man kann sich ebenso leicht an Rothes unerklärter Wandlung zum Triebtäter stören oder an der kurzen Widerstandsverwicklung, in die Rothe unwillentlich hineingerät. Gleichwohl nutzt der Film beide Sachverhalte als Ausdrucksvehikel, einerseits des oben erwähnten Eingriffs des Politischen ins Private, andererseits als Kontrastzeichnung, denn der trotz allem unpolitische Rothe wirkt unter all den Konspirateuren wie ein Fremdkörper. Achtung Spoiler! „Der Verlorene“ war der erste Film nach Kriegsende, an dessen Ende ein Nazi gerichtet wurde. Lorres brillanter Zug ist es, diesen Mord aus einer absolut unpolitischen Motivation heraus geschehen zu lassen. Ende Spoiler!
Fazit: „Der Verlorene“ ist ein sperriges Glanzstück, dessen Genius sich im Gegensatz zu „M“ nicht unverzüglich erschließt. In präzisen und atmosphärischen Bildern greift es zahlreiche heikle Themen der Nachkriegszeit auf und unterlässt jedwede Bestrebung der Moralisierung: kein Zeigefinger weit und breit. Dem grandioser Peter Lorre sieht man in jeder Sekunde seiner Filmpräsenz die Schwermut und Lebensmüdigkeit seines Charakters an und auch die Nebendarsteller sind überzeugend besetzt. Lorres Regiedebüt ist kein leichter Film und erfordert vom Zuschauer ein Entgegenkommen. Hat man sich erst darauf eingelassen, erschließt sich „Der Verlorene“ als einer der herausragenden Filme der deutschen Geschichte, als ein essentielles Zeitdokument, dessen damalige Ablehnung ebenso viel über die Nachkriegsjahre aussagt, wie der Film selbst, der bis heute nichts von seiner verstörenden Kraft eingebüßt hat.