Alfred Charles Kinsey war einer der umstrittensten und erfolgreichsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Der studierte Biologe revolutionierte in den 40er Jahren die Sexualforschung, wurde gleichsam als Pionier gefeiert, wie vom erzkonservativen Amerika mit Inbrunst verteufelt. Dem bewegten Leben des störrischen Freigeists widmet sich Independentfilmer Bill Condon in seinem glänzend gespielten, feinfühligen Biographie-Drama „Kinsey“.
Alfred Kinsey (Liam Neeson), geboren am 23. Juni 1894 in Hoboken/New Jersey, wächst in einem gestrengen konservativen Elternhaus auf, in dem er unter dem bigotten Vater (John Lithgow) zu leiden hat. Der predigt unbeflissen moralische Werte, an die sich sein Sohn aber nicht hält und lieber dagegen rebelliert. Kinsey ist intelligent und bringt es zu einer makellosen Universitätskarriere, studiert zunächst am renommierten Bowdoin College, später sogar in Harvard und wird 1929 Professor für Zoologie an der Indiana University in Bloomington. Dort lernt er auch seine Frau Clara McMillen (Laura Linney) kennen. Die beiden bekommen drei Kinder. Während sich Kinsey zu Anfang als Insektenforscher einen Namen macht, entdeckt er erst 1936 im Alter von 42 Jahren das Gebiet der Sexualforschung als Betätigungsfeld, weil ihm auffällt, dass das menschliche Verhalten wissenschaftlich noch nicht erschlossen ist. Mit einem Team aus jungen wissenschaftlichen Mitarbeitern (u.a. Peter Sarsgaard, Chris O’Donnell, Timothy Hutton) macht sich Kinsey daran, Unmengen an Daten zu sammeln. Mehr als 20.000 Amerikaner befragt das Team nach deren Sexgewohnheiten. Nach der Veröffentlichung des ersten Buches bricht ein Sturm der Entrüstung aus und Kinsey werden die Fördermittel gestrichen. Zudem sorgt die freie Moral, die der Wissenschaftler auch seinen Mitarbeitern predigt, für Eifersüchteleien und Streit untereinander...
Bill Condon macht aus der Not des elf Millionen Dollar kleinen Budgets eine Tugend. Der Regisseur und Autor konzentriert sich vollkommen auf seine Hauptfigur und die Dialoge, anstatt in optische Spielereien zu verfallen. Somit gelingt ihm mit „Kinsey“ ein eindrucksvolles, intelligentes Charakterporträt, das trotz des kontroversen Themas nicht halb so schwermütig daherkommt, wie es zu vermuten war. Mit einer wohldosierten Prise Humor lockert Condon an den richtigen Stellen das Gesehen auf. Angst vor entblößten Geschlechtsteilen bzw. Brüsten (u.a. in Person von Peter Sarsgaard und Laura Linney) hat Condon nicht, angemessen unverkrampft geht er mit dem Thema um, ohne in die Prüderie von US-Mainstream-Produktionen zu verfallen. Bis ins Detail entfaltet er das Leben des Alfred Kinsey, der am 25. August 1956 in Bloomington/Indiana verzehrt von den emotionalen Gefechten, die er zeitlebens führte, an Herzversagen starb.
Meisterhaft gelingt es Condon, dem Werk Struktur zu geben. Die auch heute noch praktizierte Interviewmethode, die Kinsey entwickelt hat, dient als Handlungsrahmen. Von seinem Team wird der alte Kinsey nach seinem (Sexual)Leben ausgefragt, sodass sich seine Geschichte in Rückblenden entfaltet. Kinsey war immer schon ein Mann mit Durchsetzungskraft und Führungspotenzial, aber seine Sturheit stand ihm sein ganzes Leben lang meistens im Weg. Kompromisse waren seine Sache nicht. Er befreite Amerika vorrübergehend aus der Prüderie und war durch seine Einstellung zur freien Liebe, die er hemmungslos praktizierte, zudem Wegbereiter für die sexuelle Revolution der späten 60er Jahre. Seine Bücher („Das sexuelle Verhalten des Mannes“, 1948, und „Das sexuelle Verhalten der Frau“, 1953) wurden monströse Verkaufserfolge, aber seine Verdienste als ernsthafter Wissenschaftler wurden von Kollegen und der amerikanischen Öffentlichkeit oftmals in den Dreck gezogen. Das zerrte an Kinsey.
Liam Neeson („Luther“, „Tatsächlich Liebe“, „Star Wars: Episode 1“) gibt als Titelfigur eine oscarreife Vorstellung ab und war bereits für einen Golden Globe nominiert. Er transportiert die gesamte Brandbreite des Charakters und schafft es, dessen Besessenheit fühlbar zu machen. Seit „Schindlers Liste“ war der Ire nicht mehr so gut. Die wieder einmal wunderbare Laura Linney („Mystic River“, „Die Truman Show“, „Das Leben des David Gale“) rechtfertigt ihre Golden-Globe-Nominierung ebenfalls ohne Mühe. Als starker, aber geistig gefestigter Gegenpol zum emotional starren Kinsey zeigt Linney Großes mit kleinen Gesten.
Auch die Nebendarsteller sind bestens gewählt. Oliver Platt („Pieces Of April“, „Sag´ kein Wort“) gefällt durch sein zurückhaltendes Spiel als Kinseys Förderer Herman Wells. Das Trio Peter Sarsgaard („Garden State“, „The Salton Sea“), Chris O’Donnell („Vertical Limit“, „Batman & Robin“) und Timothy Hutton („Das geheime Fenster“, „French Kiss“) gibt Kinseys Team ein Gesicht. Sarsgaard, der im Film sowohl mit Kinsey, als auch mit dessen Frau eine Affäre hat, sticht von den dreien am meisten hervor und gefällt durch eine ausgeprägte Sensibilität. Einen starken Auftritt hat auch John Lithgow („Cliffhanger“, „2010“), der nach längerer Zeit einmal wieder eine bedeutsame Rolle spielen darf. Als Kinseys erzkonservativer Vater besticht er zunächst durch unnachgiebige Härte, aber gerade als diese im Alter auf berührende Art und Weise aufbricht, zeigt Veteran Lithgow seine Stärke.
Die einzige kleine Schwäche, die „Kinsey“ kennzeichnet, hat Regisseur Condon nicht gänzlich zu verantworten. Bedingt durch das Thema und den Zusammenprall von sexueller Freizügigkeit und Prüderie sind die Handlungen und Konflikte zu einem Großteil vorgezeichnet, was der Spannung etwas schadet. Dass Kinsey nicht nur seiner Zeit um Lichtjahre voraus war, ist logisch, aber selbst für heutige Zeiten, ist seine Einstellung nicht mehr gesellschaftlich haltbar und wird auch im 21. Jahrhundert nicht als Standard definiert. Das heißt keinesfalls, dass Kinsey mit seiner Arbeit, die immer noch als bahnbrechend gilt, gescheitert ist, sondern vielmehr, dass sich seine Sichtweise auch Jahrzehnte später nicht durchsetzen konnte – abgesehen von einem kurzen Intermezzo der freien Liebe.