Als im Juli 1997 ein eigentlich recht kleines, unscheinbares Kinderbuch einer geschiedenen, allein erziehenden, ehemaligen englischen Lehrerin mit dem Titel „Harry Potter und der Stein der Weisen“ erschien, glaubte kaum einer wirklich an den großen Wurf. Am allerwenigsten wohl die Autorin Joanne Kathleen Rowling selbst. Doch was folgte, war bekanntermaßen eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Die Marke „Harry Potter“ hat sich längst zur eierlegenden Wollmilchsau entwickelt. Die populäre Romanreihe für Menschen aller Alterklassen umfasst mittlerweile fünf Werke, die Merchandising-Maschinerie bietet dem jugendlichen Publikum alles von der Harry-Potter-Bettwäsche bis zum Harry-Potter-Zauberstab und die Verfilmungen der ersten beiden Romane („Harry Potter und der Stein der Weisen“ und „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“) spielten allein an den Kinokassen 1,85 Milliarden US-Dollar (Teil 1: 977 Mio Dollar, Teil 2: 877 Mio Dollar) ein. Aus der arbeitslosen Lehrerin wurde eine der reichsten Frauen Englands. Daran wird auch die Leinwand-Adaption des für dritten Buches „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ nichts ändern. Ganz im Gegenteil.
Ferien sind etwas, von dem die meisten Schüler nie genug bekommen können. Doch bei Harry (Daniel Radcliffe) ist dies völlig anders. Freie Zeit bedeutet für ihn, dass er die Zauberschule Hogwarts verlassen und endlose Wochen bei seinem Onkel Vernon Dursley (Richard Griffiths) und seiner Tante Petunia (Fiona Shaw) verbringen muss. Die beiden haben für Harry genauso wie ihr fettleibiger Sohn Dudley (Harry Melling) nichts als pure Verachtung übrig. Zauberei ist in ihrem „Muggel“-Haushalt verpönt. Da Harry außerhalb von Hogwarts ohnehin nicht Zaubern darf, gibt es zumindest in diesem Punkt keine Differenzen. Allerdings kommt es bei einem Abendessen mit Tante Magda (Pam Ferris) zum großen Eklat. Als diese sich abfällig über Harrys verstorbene Eltern äußert, platzt diesem der Kragen. Er verwandelt sie in einen gigantischen, menschlichen Luftballon und verlässt Hals über Kopf das Haus der Dursleys. Doch wohin nun? Harry geht fest davon aus, dass er vom Zauberei-Ministerium von Hogwarts verwiesen wird.
Dies ist jedoch glücklicherweise nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Schlagartig ist auf einmal jeder um ihn herum in höchstem Maße um seine besorgt. Allen voran der Zauberei-Minister Cornelius Fudge (Robert Hardy). Doch warum dies so ist, wird ihm verheimlicht. Hat es eventuell mit dem aus dem Zauberergefängnis Askaban entflohenen Magier Sirius Black (Gary Oldman) zu tun? Zurück in Hogwarts wimmelt es jedenfalls geradezu von den berüchtigten Dementoren, den Furcht einflössenden Wächtern von Askaban. Und aus irgendeinem Grund scheint Harry die Dementoren förmlich anzuziehen. Ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Dabei wie gewohnt immer an Harrys Seite: Seine besten Freunde Ron (Rupert Grint) und Hermine (Emma Watson).
Die ersten beiden Teile der Harry-Potter-Saga entwickelten sich unter der Regie von Chris Columbus zu einem weltweiten Blockbuster-Phänomen. Aus kommerzieller Sicht war das Projekt Potter-Adaption für alle Beteiligten ein beeindruckender Triumph - die Filme stehen auf Platz drei (Teil 1) und sieben (Teil 2) in der Liste der weltweit erfolgreichsten Werke aller Zeiten. Doch über jeden Zweifel erhaben waren „Der Stein der Weisen“ und „Die Kammer des Schreckens“ bei weitem nicht. Für viele orientierte sich Columbus bei der Umsetzung zu sklavisch an der Romanvorlage. Manch einer störte sich an der Hochglanz-Ästhetik mit ihren dominierenden Spezial-Effekten und dem alles andere als fehlerfreien Spiel der Jungdarsteller. Ein weiterer Punkt war die in beiden Teilen über 150 Minuten liegende Spielzeit, die für einen Kinderfilm – der Harry Potter de facto einfach ist – mehr als nur grenzwertig war und in Anbetracht der zunehmend umfangreicher werdenden Romanvorlagen Böses erahnen lies. Es musste also etwas geschehen. Dem braven Chris Columbus wurde durch einen Posten auf der Produzentenebene der Abschied vom Regiestuhl versüßt und an seiner Stelle wurde der Mexikaner Alfonso Cuarón eingesetzt.
Als bekannt wurde, dass ausgerechnet Alfonso Cuarón für frischen Schwung und neue Facetten in der etablierten Serie sorgen sollte, war die Verwunderung groß. Sicherlich kann Cuaróns bisherige Biographie mit der starbesetzten Liebesgeschichte „Große Erwartungen“ und dem sexuell freizügigen und unverblümten Jugenddrama „Y tu mamá también“ zwei mehr als nur erwähnenswerte Filme vorweisen, doch dass ihm nun das Zepter über ein 130-Millionen-Dollar-Budget in die Hand gedrückt wird, war zumindest auf den ersten Blick überraschend. Auf den zweiten Blick ergibt die Entscheidung pro Cuarón jedoch durchaus Sinn. In „Y tu mamá también“ hat er sein gutes Händchen in Umgang mit jugendlichen Darstellern bewiesen und an seinen Fähigkeiten als exzellenter Geschichtenerzähler besteht ohnehin kaum ein Zweifel.
Um eines vorneweg zu nehmen: Cuarón ist wohl das Beste, das Harry Potter zum momentanen Zeitpunkt hätte passieren können. Sobald das Ende des 142-minütigen Films erreicht ist und der Abspann auf der Leinwand erscheint, ist der erste Gedanke zwangsläufig, dass Cuarón tatsächlich der Schritt weg von der kindlichen, sterilen Inszenierung der ersten beiden Teile gelang. „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ ist wie die Buchvorlage deutlich düsterer und komplexer als seine Vorgänger. Darüber hinaus setzt Cuarón das in die Tat um, was Columbus während der ersten beiden Teile nie wagte: Er beschränkt sich auf die wesentlichen Handlungsaspekte des Romans und lässt für den eigentlichen Hauptplot Unwesentliches außen vor. Ein Umstand, der bei manchem Liebhaber der Bücher auf Unverständnis stoßen wird, doch da auch „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ die Zwei-Stunden-Grenze sprengt, müssen derartige Abstriche, so bitter sie in manchen Aspekten auch sein mögen, einfach in Kauf genommen werden. Viel wichtiger ist, dass der Film für sich betrachtet in sich schlüssig ist und den rundesten Eindruck der bisherigen Potter-Filme hinterlässt. Trotzdem ist Teil 3 bei weitem nicht perfekt. Manche Dinge werden nur am Rande angedeutet, anderes zu schnell aufeinander folgend abgehandelt… doch dies ist lediglich der Fluch der umfangreichen Romanvorlage und der straffen Inszenierung des Films.
Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung ist bei den Jungdarstellern auszumachen. Die anderthalb Jahre, die seit „Die Kammer des Schreckens“ vergangen sind, sind ihnen deutlich anzumerken. Rupert Grint fährt sein überdrehtes Spiel aus den ersten beiden Teilen dankbarerweise merklich zurück. An Emma Watsons Hermine lies sich noch nie etwas aussetzen. Sie ist nach wie vor das schauspielerische Aushängeschild aus dem jungen Dreigestirn. Schwachpunkt bleibt jedoch nach wie vor Daniel Radcliffe. Er wächst zwar allmählich in die vielschichtige Rolle des Harry Potter hinein, doch vollkommen auszufüllen vermag er diese noch nicht. Als Beispiel hierfür sei die Szene angeführt, in der Harry in Hogesmead herausfindet, wie Sirius Black mit ihm und seinen Eltern in Verbindung steht. Radcliffe gelingt es einfach nicht, die in dieser Szene in Harry aufkommende Wut und Trauer glaubhaft zum Publikum zu transportieren.
Bei der übrigen Darsteller-Riege gibt es ein Wiedersehen mit vielen alten Bekannten, aber auch mit einigen neuen Gesichtern. Die Rolle des in den ersten beiden Teilen noch mit dem leider verstorbenen Richard Harris besetzten Albus Dumbledore wurde Michael Gambon vergeben. Dieser fällt zwar nicht weiter ab, doch das Charisma und die Ausstrahlung, die Harris einfach auszeichneten, gehen im leider ab. Sirius Black wird von Gary Oldman verkörpert. Über diese Besetzung lässt sich zum momentanen Zeitpunkt noch kein abschließendes Urteil bilden. Seine Auftritte sind als auf der Flucht befindlicher Zauberer naturgemäß rar gesät. Doch seine großen Auftritte werden in den kommenden Teilen noch folgen, denn Sirius Black wird noch eine gewichtige Rolle zu spielen haben. Herausragend ist David Thewlis als Professor Lupin, dem neuen Lehrer im Fach „Verteidigung gegen die Dunklen Künste“. Er entwickelt sich als alter Weggefährte seiner Eltern für Harry nach und nach zu der Vaterfigur, die in den ersten beiden Teilen noch Albus Dumbledore inne hatte und bildete damit den perfekten Gegenpart zu wieder einmal herrlich fiesen Professor Snape (Alan Rickman).
Noch ein abschließendes Wort an alle Eltern: „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ ist weit vom harmlosen Kinderfilm der ersten beiden Teile entfernt. Teilweise geht es hier richtig zu Sache. Das Repertoire der Monster reicht vom Grim (ein riesiger Hund) über Werwölfe bis hin zu den für das junge Publikum unter Umständen wirklich Furcht einflössenden Dementoren. Die FSK reagierte entsprechend und erteilte dem Film nicht wie seinen Vorgängern die Alterfreigabe „ab 6“, sondern „ab 12“, was auch vollkommen in Ordnung geht und nachvollziehbar ist. Joanne K. Rowling sagte einmal, dass man nicht über das Gute schreiben könne, wenn man das Böse außen vor lasse. Nun, außen vor gelassen wird in "Der Gefangene von Askaban" definitiv nichts...
Unterm Strich ist „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ die bisher mit Abstand gelungenste Episode der Potter-Saga. Die Schwachpunkte der ersten beiden Teile wurden konsequent ausgemerzt und die zahlreichen Story-Wendungen zum Ende hin, die schon den Roman zum bisher vielleicht Besten aus der Feder von Joanne K. Rowling machten, wissen zu fesseln. Allerdings sollte keiner in der Erwartung einer 1:1-Umsetzung des Buches ins Kino gehen. Wer dies tut, wird zwar nicht vollkommen enttäuscht sein, aber eine gewisse Ernüchterung könnte sich durchaus einstellen. Seinen vollen Unterhaltungswert entfaltet der Film nur dann, wenn der Betrachter ihn als das akzeptiert, was er auch ist: Ein eigenständiges Werk in einem völlig anderen Medium.