Was könnte passiert sein, wenn der Alltag, die Normalität, das Banale nicht sind, was sie eben sind oder zu sein scheinen, sondern wenn sie eine besondere Bedeutung bekommen, eine Art Schutzschild werden, sich aus den Bestandteilen des Alltäglichen eine Verteidigungslinie aufzubauen beginnt, ein Selbsterhaltungsmechanismus? Der Tod setzt allem und jedem Grenzen. Die Hinterbliebenen, die Zurückgelassenen, die, die nicht mehr Kontakt haben können mit dem Verstorbenen, sie werden in einen Zustand versetzt, in dem sie das Unfassbare, das Endgültige, das Unabänderliche nicht akzeptieren wollen, aber müssen. In dieses Spannungsfeld, in diese Zerreißprobe versetzt Brad Silberling („Casper“, 1995; „Stadt der Engel“, 1998) die vier Hauptfiguren in seinem neuen Film „Moonlight Mile“. Silberling weiß und spürt, wovon er redet, wovon sein Film handelt. Seine Freundin, die Fernsehschauspielerin Rebecca Schaeffer, wurde 1989 von einem „Fan“ ermordet. In dieser Zeit, so berichtete er dem amerikanischen Filmkritiker Roger Ebert, hatte Silberling sehr engen Kontakt zu Rebeccas Eltern. „Moonlight Mile“ ist daher auch eine Form der Auseinandersetzung mit Silberlings eigenen Erlebnissen. Der Film spielt 1973 in der Kleinstadt Cape Anne in Massachusetts. Silberling setzte auf Musik und Stil der 70er Jahre, ohne dass dies in irgendeiner Weise aufdringlich wirkt – im Gegenteil: Die Atmosphäre des Films ist grandios, ohne dass die Zeit der 70er Jahre in einer Art nostalgischen Verklärung oder idealistischer Erbauung in den Vordergrund rücken würde.
Die Tochter des Immobilienmaklers Ben (Dustin Hoffman) und der Schriftstellerin JoJo Floss (Susan Sarandon) wurde in einem Restaurant Opfer eines Streits. Der Täter schoss seine Partnerin zweimal in den Kopf; sie überlebte. Diana Floss dagegen ist tot. Ihr Verlobter Joe Nast (Jake Gyllenhaal) lebt bei den Floss. Was das Ehepaar nicht weiß: Diana wollte sich in dem Restaurant mit ihrem Vater treffen, um ihm zu sagen, dass sie und Joe bereits längere Zeit nicht mehr zusammen sind und die geplante Hochzeit absagen wollten. Dazu kam es nicht mehr. Ben, JoJo und Joe können nicht weinen. Sie können nicht fassen, was passiert ist. Joe bringt es nicht über sein Herz, den beiden die Wahrheit über sich und Diana zu sagen. Er bleibt bei ihnen, unschlüssig, was er tun soll. Ben will ihn als Partner für sein Maklergeschäft. Er möchte den Auftrag eines reichen Mannes in der Stadt, Mulcahey (Dabney Coleman), an Land ziehen, der eine ganze Straße aufkaufen will, um dort Geschäftshäuser hochzuziehen. In einer Bar in dieser Straße arbeitet Bertie Knox (Ellen Pompeo), die Joe auf dem Postamt kennen lernt, als er von Ben gebeten wird, die Einladungsbriefe zur Hochzeit zurückzuholen. Bertie arbeitet dort tagsüber. Als Joe erfährt, dass auch die Bar Opfer der Spekulation werden soll, sagt er Ben, er wolle sich um den Kauf des Grundstücks bemühen. Joe will verhindern, dass die Bar zumachen muss – wegen Bertie. Sie und Joe verbindet sofort eine tiefe Sympathie und Zuneigung. Joe erfährt, dass Bertie ebenfalls trauert. Ihr Freund, der Besitzer der Bar, wird seit drei Jahren in Vietnam vermisst ...
Silberling entwickelt behutsam, fernab jeglicher Rührseligkeit, die Beziehungen zwischen den Trauernden und ihren jeweils eigenen Weg, mit dem Verlust von Diana umzugehen. JoJo kann nicht mehr schreiben. Ihre Gefühle schwanken zwischen tiefer Verzweiflung und Wut. Sie sagt selbst, dass sie die Beileidsbekundungen von Bekannten und Freunden nicht mehr hören kann, gleichzeitig aber ebenso wütend wird, wenn jemand ihr nicht sein Mitgefühl ausdrückt. Ben beschäftigt sich durch Arbeit, er will den Auftrag von Mulcahey. Vor allem aber will er eine Art Ersatz für Diana: Joe. Joe soll sein Partner, aber mehr noch soll aus dem designierten Schwiegersohn eine Art Sohn werden. Ben will die Todesstrafe für den Mörder. Die Anwältin der Floss, Mona Camp (Holly Hunter), wartet nur darauf, dass die durch zwei Kugeln verletzte Frau aus dem Koma erwacht, sucht nach Zeugen. Doch immer deutlicher stellt sich heraus, dass der Täter und seine Verurteilung nicht das wirkliche Problem der Floss sind. Joe Nast – großartig Jake Gyllenhaal – wirkt wie ein Gestoßener, einer, der völlig vom Willen anderer abhängig geworden ist. Joe ist hilflos, ohnmächtig, weil er voller Mitgefühl für Ben und JoJo beiden nicht noch einen Schicksalsschlag versetzen will. Er tröstet mal Ben, mal JoJo, vorsichtig, zärtlich.
Susan Sarandon habe ich selten so überzeugend und gefühlvoll spielen sehen. In einer Szene fragt Joe JoJo, warum sie und Ben zusammen seien. JoJo erzählt, wenn sie nachts ins Bett gehe, würde sie Ben ihren kalten Po entgegenstrecken, er würde sich an sie schmiegen und sie wärmen, und das würde sich seit Jahren so abspielen. Wie Susan Sarandon dies erzählt, ist es die schönste Liebeserklärung, die man sich in einem Film vorstellen kann. Hofmann und Sarandon spielen ein Ehepaar, dass in vielem unterschiedlicher Meinung ist, zwei Menschen, die in vielen Dingen anders empfinden, die offen miteinander streiten, die sich kennen, die sich lieben. Ihr Spiel ist glaubwürdig, es fasziniert. Die größte Entdeckung dieses Films ist allerdings Ellen Pompeo (zuletzt in Nebenrollen zu sehen in „Daredevil“, 2003, und „Catch Me If You Can“, 2002) in der Rolle der seit Jahren trauernden und vergeblich hoffenden Bertie, die ihren Freund vermisst und sich doch gleichzeitig eingestehen muss, dass er wohl nie wieder aus Vietnam zurückkehren wird. Ellen Pompeo spielt eine junge Frau, die Joe sofort anmerkt, dass er sich in einer sehr ähnlichen Situation befindet wie Bertie. Ellen Pompeo spielt derart gefühlvoll, zwischen tiefer Verletzung und Verzweiflung, dem Mut, ihrem Leben einen Sinn zu geben und einem intensiven Gefühl für Joe, dass es wirklich eine Freude ist, dieser Schauspielerin zuzuschauen. Die Zuneigung zwischen Joe und Bertie ist übrigens nicht als eine oberflächliche, sozusagen dramaturgisch deutlich vorgezeichnete Liebesgeschichte angelegt. Es bleibt bis zum Schluss offen, wie sich beide entscheiden, nachdem Joe vor Gericht nach langem Schweigen endlich die Wahrheit über sich und Diana gesagt hat.
Silberling gelang mit „Moonlight Mile“ etwas Großartiges. Er inszenierte eine Tragödie als Komödie, ohne dass das Tragische des Geschehens und seine Folgen für die Trauernden sich in Ulk oder Nonsens auflösen würde. „Moonlight Mile“ ist ein überzeugender Beweis für die Bedeutung des Humors, des Komischen in tragischen Situationen des Lebens, als einer Form, die Folgen der Tragik zu überwinden, um nicht dauerhaft in tiefe Depression zu verfallen. Erst die Komik und die Wahrheit ermöglichen es zum Schluss Ben, JoJo und Joe zu weinen, loszulassen und Diana als jemand in Erinnerung zu behalten, die sie war: eine gute Freundin, eine geliebte Tochter, ein wunderbarer Mensch, den wir nicht kennen lernen, von dem wir uns aber aus dem Verhalten der Figuren vorstellen können, wie er (in etwa) war.
Für Silberling sind die 70er Jahre und die wunderbare Musik dieser Jahre, von der man einiges zu hören bekommt, nur Mittel zum Zweck. Im Zentrum stehen seine vier Darsteller, ihre Charaktere, ihre Geschichte, ihre Probleme, ihre Verwicklungen nach dem Tod Dianas.